Wilhelm II
Primärquellen und fand keinerlei Beleg für die Auffassung, dass Wilhelms frühe Entwicklung durch einen Mangel an Elternliebe gestört worden sei. Er gelangte vielmehr zu der Ansicht, dass der emotionale Ton im Haushalt Kronprinz Friedrich Wilhelms, gemessen am Standard der damaligen dynastischen Haushalte, außerordentlich herzlich und zärtlich gewesen sei (eine Schlussfolgerung, die von Lamar Cecil, dem amerikanischen Biografen Wilhelms, gestützt wird). Die Ursprünge der Abnormalität Wilhelms lägen, so Röhl, weiter zurück, bei den Umständen seiner Geburt. In dem wohl ausführlichsten Exkurs in das Feld der Geburtshilfe, der jemals in einem historischen Buch abgedruckt wurde, hat Röhl detailliert die Umstände der Entbindung rekonstruiert und plädiert für die Auffassung, dass Wilhelm während der Geburt für kurze Zeit keinen Sauerstoff bekam und infolgedessen mit einem »leichtgradigen Hirnschaden« zur Welt kam, einer Störung, die in aktuellen, medizinischen Forschungen mit Überempfindlichkeit, Reizbarkeit und einem Mangel an Konzentrationsfähigkeit und Objektivität bei Erwachsenen in Verbindung gebracht wird. Eben dieses »frühkindliche, exogene Psychosyndrom«, so Röhl, habe Wilhelm für eine »sekundäre Neurotisierung« geradezu prädestiniert, die durch die Unbilden seiner Kindheit herbeigeführt worden sei: die abenteuerlichen Therapien, die angewandt wurden, um seinen gelähmten Arm mit Leben zu erfüllen, die
»Kopfstreckmaschine«, mit deren Hilfe sein Hals gestreckt wurde, das harte Regime Hinzpeters, und dergleichen mehr. 61
Bewirkten abnormale Charakterzüge, seien sie nun angeboren oder in der Kindheit erworben, tatsächlich, dass Wilhelm ungeeignet war, Macht auf vernünftige, rationale Weise auszuüben? Müssen wir diagnostische und symptomatische Kategorien der Psychoanalyse und Neurologie heranziehen, um das Verhalten des Kaisers zu erklären? Diese Fragen können naturgemäß erst im Licht der Analyse der politischen Karriere Wilhelms beantwortet werden, mit der sich die folgenden Kapitel des Buches befassen. An dieser Stelle sind jedoch einige behutsame Bemerkungen angebracht. Erstens: Um bestimmte Verhaltensweisen zu erklären, ist die Psychoanalyse toter Personen zwar eine faszinierende, aber doch überaus spekulative Methode. Zu der inhärenten Problematik der Anwendbarkeit diagnostischer Kategorien (wann ist die elterliche Empathie denn »ausreichend«?) kommt noch der ambivalente und in manchen Fällen sogar widersprüchliche Charakter der Quellen hinzu. Was die These von dem leichten Hirnschaden und der »sekundären Neurotisierung« betrifft, so stützt sie sich auf diagnostische Vermutungen, die – wie Professor Röhl wohl selbst einräumen würde – in ihrem Ursprung umstritten sind. Darüber hinaus erfordert dieser Ansatz, sich ausschließlich auf die Rahmenbedingungen der Geburt zu berufen, weil kein einziger Arzt Wilhelms im Säuglingsalter oder in der frühen Kindheit jemals Anzeichen geistiger Mängel feststellte.
Problematisch ist ferner die Tatsache, dass die »Geisteskrankheit« des Monarchen in manchen Fällen eher eine politische als eine streng medizinische Dimension hatte. Wie Janet Hartley beobachtet hat, neigten britische Botschafter und Politiker dazu, Zar Alexander I. von Russland für geistesgestört zu erklären, aber meist nur dann, wenn sie ihn im Verdacht hatten, den britischen Interessen zuwider zu handeln. 62 Im Fall Wilhelms wussten die Zeitgenossen ganz genau, dass Gerüchte, die über seinen Geisteszustand seit Anfang der neunziger Jahre kursierten, politisch
motiviert waren, auch wenn sie nicht abstritten, dass das exzentrische Verhalten des Kaisers gelegentlich entsprechende Spekulationen nährte. 63 Das »erfolgreichste, politische Pamphlet im kaiserlichen Deutschland«, ein 1894 von dem linksliberalen Historiker Ludwig Quidde veröffentlichter satirischer Essay, bettete die geäußerte Kritik an der kaiserlichen Monarchie in eine »Diagnose« des Kaisers, die sich auf die gängigsten Schlagworte der Neurologie stützte. 64 Überdies kam es nicht selten vor, dass ausgerechnet diejenigen, die bis vor kurzem noch die energische Art und die Charakterstärke des Kaisers gepriesen hatten, unvermittelt Zweifel an seinem Geisteszustand äußerten, sobald sie in Ungnade fielen. Der Verdacht auf eine psychische Instabilität wurde und wird häufig in Folge einer Ablehnung einer bestimmten Verhaltensweise geäußert; die mehr oder weniger
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