Wilhelm II
preußischen Militärstrafgesetzes dazu bei, den Unmut der Minister gegen den Monarchen zu bündeln. Der umstrittenste Aspekt der vorgeschlagenen Reform betraf die Zulassung der Öffentlichkeit zu Kriegsgerichten. In Frankreich, Italien, Großbritannien und sogar in Russland waren nach den geltenden Bestimmungen zumindest in manchen Prozessen öffentliche Anhörungen vorgesehen. Dasselbe galt für Bayern seit 1869. Der Reichstag hatte 1889 und 1892 Anträge verabschiedet, die eine Reform auf diesem Feld forderten. Doch die preußische Militärjustiz hielt sich immer noch an den antiquierten Codex von 1845 und ließ unter keinen Umständen öffentliche Anhörungen zu. Die Prozesse wurden im Geheimen abgehalten, die Richter waren ausnahmslos Offiziere, und ein Verteidiger wurde dem Angeklagten häufig verwehrt. Die Einleitung und oft auch der Ausgang des Verfahrens hingen von der Laune des Standortkommandanten ab. Eine Reform war längst überfällig und wurde von Bronsart und Hohenlohe energisch befürwortet. 83
Wilhelms unnachgiebige Weigerung, derartige Reformen zu billigen, löste die wohl ernsteste politische Krise der neunziger Jahre aus. Seine Unnachgiebigkeit war zum großen Teil auf den Einfluss der militärischen Entourage zurückzuführen, die sich im Laufe der Krise – in einzigartiger Weise – als eigener politischer
Faktor entpuppte. Wie alle seine Vorgänger im 19. Jahrhundert war auch Wilhelm von unzähligen Militärs umgeben: Flügeladjutanten, Generaladjutanten, Generäle und Mitglieder des Militär- und des Marinekabinetts. Dieses uniformierte Gefolge war ein relativ loses und disparates Gremium. Wie Isabell Hull jedoch in ihrem Standardwerk über die Entourage Wilhelms nachweist, bewirkte die drohende Reform der Militärjustiz eine noch nie da gewesene politische Mobilisierung. Der Chef des Militärkabinetts Wilhelm von Hahnke organisierte eine eindrucksvolle Kampagne gegen die Vorschläge Bronsarts, in der das ganze Gefolge, bis hin zum unscheinbarsten Flügeladjutanten, geschlossen gegen das Ministerium auftrat. Tatsächlich taten sie dies mit einer Einmütigkeit und Zielstrebigkeit, von der sich Wilhelm allem Anschein nach beeinflussen ließ. Anfangs war er mit Sicherheit gegen den Gesetzentwurf, vor allem weil er Klauseln enthielt, die sein Recht, Gerichtsurteile zu bestätigen oder zu verwerfen, abschwächen sollten, aber es spricht manches dafür, dass er 1895 mehrmals versuchte, sich aus dem Engagement für geheime Gerichtsverfahren herauszuwinden. Allerdings wurde er durch den Druck der Lobbygruppe, die innerhalb des Gefolges agitierte, immer daran gehindert. Der Großherzog von Baden meinte dazu: »Ich darf dabei nicht unerwähnt lassen, dass der Reichskanzler einen sehr maßgebenden Einfluss in militärischen Dingen als von Generaladjutant von Hahnke ausgehend bezeichnet und dabei fürchtet, daß der Kaiser bei Besprechung solcher Fragen vor seiner Umgebung sich in manchen entscheidenden Punkten gebunden fühlt . In solcher Lage ist es doppelt schwierig, die gefassten Entschlüsse zu modifizieren.« 84 Auch hier begegnen wir der Dialektik der Ermächtigung und Einschränkung, die für Wilhelms Erfahrung mit dem souveränen Amt so charakteristisch war.
Im ganzen Frühjahr und Sommer 1895 sah sich Wilhelm mit einem Ministerium konfrontiert, das sich weigerte, die Reformvorschläge auf die lange Bank zu schieben. Dieses Patt leitete die »Köller-Krise« vom Herbst 1895 ein, die einige Historiker
als Wendepunkt in Wilhelms Herrschaft bezeichnet haben. Im Grunde brach die Krise aus, als deutlich wurde, dass jemand Details vertraulicher Ministergespräche zur Militärstrafrechtsreform dem Kaiser und Mitgliedern seines militärischen Gefolges hinterbracht hatte. Der Verdacht fiel sofort auf den erzkonservativen Innenminister Ernst Matthias von Köller. Seit seiner Ernennung im Herbst 1894 war Köller als Mann des Kaisers im Ministerium angesehen worden und hatte eine Reihe der weltfremden, persönlichen Anliegen Wilhelms energisch verfochten, etwa einen Vorschlag, despektierliche Äußerungen über die Person Wilhelms I. unter Strafe zu stellen. Mit seiner begeisterten Unterstützung für derartige Initiativen hatte sich Köller unter den Ministern überaus unbeliebt gemacht. Entsprechend groß war die Empörung, als die Nachforschungen ergaben, dass Köller in seinem Eifer, die Reform zu vereiteln und die Autonomie des Throns zu erhalten, Informationen über seine Kollegen weitergegeben
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