Wilhelm II
innerhalb der Reihen des Ministeriums den Einfluss des Monarchen auf die Entscheidungsfindung verstärkte. John Röhl hat nachgewiesen, dass die zunehmende Disziplinlosigkeit und Grabenkämpfe nach 1892 dem Monarchen mehr Möglichkeiten für eine Intervention verschafften, indem er Minister ermunterte, sich bei Streitigkeiten mit ihren Kollegen direkt an den Souverän zu wenden. 68 Derartige
Interventionen waren jedoch naturgemäß reaktiv, nicht kreativ; Zeitpunkt und Kontext wurden nicht vom Souverän diktiert, sondern von der hohen Politik der Rivalität unter Ministern. Und allem Anschein nach schob Wilhelm in der ersten Hälfte der neunziger Jahre noch nicht systematisch irgendwelche Pöstcheninhaber vor, um ein bestimmtes Programm durchzusetzen. Seine Vorlieben waren zu verschiedenartig und die Minister zu unabhängig, als dass eine konsequente Einflussnahme möglich gewesen wäre. Gewiss hatte Wilhelm die Macht (und auch die Neigung), in die Entscheidung bestimmter Fragen einzugreifen, indem er einem Minister gegen andere den Rücken stärkte, etwa als er den Kartell-Anteil im Ministerium gegen die konfessionelle Schulpolitik von Zedlitz-Trützschler unterstützte, oder als er Botho von Eulenburg bei der Umsturzvorlage gegen Caprivi beistand. Letzten Endes enthüllten derartige Abenteuer jedoch lediglich, dass jenseits des Ministeriums die noch beeindruckendere, weil öffentliche Barriere des Reichstags und seiner skeptischen Mehrheiten lag.
Die Freunde des Kaisers
Da Wilhelm sich mit einem so starken Widerstand seitens der »verantwortlichen« Minister konfrontiert und durch seine immer häufigeren Reisen und erratischen Arbeitsgewohnheiten vom Entscheidungsprozess abgeschnitten sah, holte er sich bei persönlichen Assistenten und Freunden Informationen, Rat und moralische Unterstützung. Im Jahr 1890 hatte vor allem eine Figur bereits maßgeblichen Einfluss auf Wilhelm: Graf Philipp zu Eulenburg-Hertefeld, damals der preußische Gesandte in dem kleinen deutschen Bundesstaat Oldenburg. Die neunziger Jahre hindurch war er der Fixpunkt im Zentrum einer losen Koalition aus Persönlichkeiten, zu denen Friedrich von Holstein (Anfang der Neunziger), der Großherzog Friedrich von Baden und (Ende der Neunziger) der Diplomat und spätere Kanzler Bernhard von
Bülow zählten. Es wurde häufig darauf hingewiesen, dass Höfe Orte sind, an denen Rang und Namen weniger wichtig sind als die Nähe zur Person des Monarchen. 69 Aber Eulenburgs Nähe zum Kaiser war eher emotional als räumlich: Er wehrte sich sogar gegen Bemühungen, ihn durch die Verleihung eines Amtes bei Hofe auch physisch an die Seite des Monarchen zu stellen, und traf Wilhelm in der Regel nur im Urlaub nach längeren Intervallen. Die beiden Männer hatten sich im Mai 1886 bei einem Jagdausflug auf dem Gut eines gemeinsamen Freundes kennen gelernt; Eulenburg war damals 39 Jahre alt, Wilhelm 27. 70 Von Anfang an zeichnete sich Eulenburg als ein »Freund« aus, dessen Kommunikation mit dem Monarchen sich auf höhere Dinge als die Politik konzentrierte (Musik, Literatur, das Okkulte) und durch keine Hintergedanken getrübt war. Einige Monate nach ihrer ersten Begegnung schrieb Wilhelm an Eulenburg:
Mein Instinkt pflegt mich, wenn ich mit Menschen zusammenkomme, bald zu überzeugen, wes Geistes Kind der Betroffene ist, mit dem ich verkehre, und [der Instinkt] hat mich selten betrogen. Bei Ihnen habe ich nicht lange gebraucht um zu sehen, dass Sie ein sympathischer, warm fühlender Charakter sind, wie man deren wenig in der Welt trifft und deren besonders die Fürsten so sehr bedürfen. Leider ist unsereins so oft dazu verdammt, nichts als Schmeicheleien oder Intrigen zu hören […] Übrigens habe ich mein Urteil seitens der Fürstin und des Fürsten Bismarck vollkommen bestätigt gefunden, was mich doppelt erfreute. 71
Mit Blick auf den vertraulichen Ton ihrer (insbesondere jedoch Eulenburgs) Briefe und auf die bisexuelle Neigung Eulenburgs, die später mit katastrophalen Folgen in der Presse publik gemacht wurde, haben manche Historiker über die Möglichkeit einer sexuellen Beziehung zwischen dem Kaiser und seinem Freund spekuliert. Angesichts dessen, was wir sonst über Wilhelm wissen (seine Konventionalität in sexuellen Fragen; der sporadische Charakter des Kontaktes zu Eulenburg), erscheint dies jedoch äußerst unwahrscheinlich; und man braucht auch
gar keine solche Beziehung zu unterstellen, um den Charakter der Verbindung oder ihre
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