Willkommen im sonnigen Tschernobyl
freundete ich mich beim abendlichen Mahl auf dem Zeltboden mit Ravi und Ramjeet an, zwei fünfzehnjährigen Sadhus, die allen Mut zusammengenommen hatten, um ihr Englisch an mir auszuprobieren. Zuerst dachte ich, die beiden wären Ausreißer, aber sie sagten, ihre Familien hätten es unterstützt, dass sie nach Maan Mandir zogen. Sie waren unzertrennlich und kannten sich wie Gabe und Henry auf der Kaisei seit frühester Kindheit.
»Ramjeet ist idealer Freund«, sagte Ravi und gab ihm einen Klaps auf den Rücken.
Bald mischte sich Ravinder in unser Gespräch, ein Hotelmanager aus Kalkutta, dessen Englisch perfekt war, und ein weiterer Sadhu, ein wild aussehender Mann mit glatt rasiertem Schädel und Ziegenbart. Nach dem Essen zogen wir uns in eines der Zelte zurück, um Englisch zu üben und drüber zu sprechen, dass ich die Yatra nicht verlassen, sondern nach Maan Mandir ziehen und mein Leben in den Dienst Krishnas stellen sollte.
»Das geht nicht«, sagte ich. Ich musste nach Hause. Ich hatte genug vom Reisen, vermisste meine Freunde, meine Familie.
»Aber Gott will, dass du hierbleibst, dass du in Maan Mandir bleibst«, sagte Ravinder.
Vielleicht hätte ich mir das überlegen sollen. Ich bin sicher, im Tempel gäbe es einen Platz für mich. Dort könnte ich unter einem Moskitonetz zusammen mit den anderen Sadhus schlafen. Morgens beim Aufwachen würde ich Shri Baba hören und meinen Blick über die Hügel und Seen von Braj schweifen lassen. War das so viel weniger als das, was mich in New York erwartete? Außerdem mochte ich diese Jungs. Normalerweise sträube ich mich gegen Leute, die versuchen, mich zu ihrer Religion zu bekehren, aber dort war mir ihre nicht insistierende Art sehr angenehm.
Aus meiner Sicht waren sie zudem Pioniere. Sie gehörten zu den wenigen Menschen auf der Welt, die gezielt eine Pilgerreise zu einem Fluss voller Scheiße machten. Sie erweiterten die Pilgermöglichkeiten der Menschheit. Und sie vollzogen diese zusätzliche Huldigung, gerade weil die Yamuna so entweiht worden war.
Da in Shri Babas Vorstellung von Umweltschutz ein heiliger Ort nicht unberührt oder frei von menschlichen Siedlungen sein musste, tauchte darin auch nicht die Menschenfeindlichkeit auf, die den Kern des westlich geprägten Naturschutzes ausmacht. Ein Paradox dieser Naturschutzbewegung ist nämlich, dass sie einerseits der persönlichen Naturerfahrung als Motivation bedarf – und andererseits an der Vorstellung festhält, moderne Menschen hätten keinen Platz in einer wirklich natürlichen Welt. Menschen in die Gleichung mit hineinzunehmen – wie bei den Holzfällern des Ambé-Projekts – erscheint wie ein Zugeständnis oder bestenfalls ein notwendiger Kompromiss. In den Köpfen vieler Umweltschützer, ob sie es nun zugeben oder nicht, wäre die ideale Natur eine, in der es kaum oder gar keine Menschen gibt. Doch das Problem dieser Prämisse liegt auf der Hand: Wir sind hier. Shri Baba und seine Sadhus, so schien es mir, boten eine andere Einstellung an, eine, mit der man für die Umwelt kämpfen konnte, ohne sich nach dem Garten Eden zu sehnen.
Weil Ravinder und die anderen gerade da waren, versuchte ich, ein paar grundlegende Tatsachen zu Krishna zu klären. Ob mir bitte jemand die exakten Worte des Hare Krishna sagen könnte?
»Man nennt es das Harenam Mahamantra«, sagte Ravinder und schrieb das in Großbuchstaben in mein Notizbuch.
»Genau wie wir Seife verwenden, um unsere Kleidung zu reinigen, so verwenden wir das Harenam Mahamantra, um unseren Geist von innen zu reinigen«, erklärte der Wilde Baba.
Damit ging es los, und bald herrschte im Zelt ein heiliger Tumult, Ravinder und der Wilde Baba diskutierten, korrigierten gegenseitig ihre Geschichten und Interpretationen und stellten noch mehr Fragen zu meinen eigenen. 330 Millionen Götter gebe es, sagte man mir, und Krishna war der oberste. Er hatte die anderen erschaffen. Aber so musste das ein Haufen Krishna-Anhänger ja sagen, oder? Sie erzählten mir von Krishna. Von seinem Leben in Braj. Von Shiva, der sich in eine Frau verwandelte, um sich unter die Hirtinnen mischen und Krishna beim Tanzen zusehen zu können. Und sie erzählten mir von der Liebe zwischen Krishna und Radha, immer wieder über Krishna und Radha.
Ich befragte sie zu Bindung und Entsagung. Warum sollte man dem weltlichen Vergnügen entsagen, wenn Krishna selbst ein solcher Playboy gewesen war? Das provozierte ein endloses Hin und Her darüber, ob Krishna ein Sadhu gewesen
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