Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition)
musste erneut ins Exil und fand diesmal in den Vereinigten Staaten eine dauerhafte Zuflucht.
Kaum eine Entscheidung dürfte einem Erwachsenen schwerer fallen als jene, die Menschen in diesen turbulenten Zeiten treffen mussten, doch die damit verbundenen Themen kennt wohl jedes Kind: Wie bekomme ich Sicherheit? Wem kann ich trauen? Was kann ich glauben? Und (mit den Worten der tschechischen Nationalhymne): »Wo ist meine Heimat?«
Ein in Prag geborenes Kind meiner Generation kannte ganz selbstverständlich den 1855 geschriebenen Roman Großmutter. Das Buch zählte zu den ersten Werken der ernsten Literatur, das in tschechischer Sprache erschien. Wegen des Namens der Romanheldin habe ich die Geschichte besonders ins Herz geschlossen: »Magdalena«. Unter den Nebenfiguren findet sich eine merkwürdige, junge Frau, die sich (von einem durchziehenden Soldaten »behext« und für die Ehe verloren) in eine Waldhütte zurückzieht, selbst im Winter barfuß herumläuft und von Beeren, Wurzeln und gelegentlichen Almosen lebt. Auf die Frage eines Kindes, wie die Frau denn unter so harten Bedingungen überleben könne, erwidert die Großmutter, das liege daran, dass dieses arme Geschöpf »nie in eine geheizte Stube komme, [deshalb] spüre sie die Kälte nicht so wie wir«. 1
In meiner ganzen Kindheit wurde Dutzenden Millionen von Menschen, bildlich gesprochen, jede Chance genommen, einen beheizten Raum zu betreten. Stattdessen mussten sie sich in dem Elend des Krieges durchschlagen: Besetzung durch feindliche Truppen, Trennung vom eigenen Haus und Angehörigen, Mangel an Lebensmitteln und Brennmaterial, und überall lauerten Misstrauen, Angst, Gefahr und Tod. Ohne die Aussicht, sich allmählich zu entwickeln,
unter vertrauten Menschen und an bekannten Orten, wurden die Kinder auf ihre ursprünglichen Instinkte zurückgeworfen und gezwungen, aus einer kleinen Auswahl schlechter Optionen praktische und moralische Entscheidungen zu treffen.
Häufig waren es mutige Entscheidungen, manche waren rein pragmatisch, anderen haftete das Schandmahl des Verrats und der Feigheit an. Oft wurde ein verschlungener Pfad gewählt, weil anfangs Vorsicht, dann Courage den Weg wiesen. Die eine oder andere Entscheidung, die als unmittelbare Reaktion auf bestimmte Umstände getroffen worden war, hatte unvorhersehbare, langfristige Folgen. In diesem Umfeld konnten übereilte Entscheidungen, sei es von Politikern, feindlichen Kombattanten, Bürokraten, Nachbarn oder selbst den Eltern, verhängnisvolle oder lebensrettende Konsequenzen haben.
Am Ende hatten alle, die die Jahre 1937 bis 1948 durchgemacht hatten, großes Leid kennengelernt. Millionen Unschuldiger überlebten den Krieg nicht, und ihr Tod darf niemals vergessen werden. Es liegt nicht in unserer Macht, verlorene Menschenleben zurückzuholen, aber wir haben eine Pflicht, alles über das Geschehene und über das Warum in Erfahrung zu bringen – nicht etwa um aus der bequemen Position der Rückschau ein Urteil zu fällen, sondern um zu verhindern, dass sich das schlimmste Übel jener Geschichte wiederholt.
D ie Recherche für dieses Buch fing so an wie viele familiengeschichtliche Nachforschungen: mit einem Stapel Kartons in der Garage. Mein Vater hatte ein halbes Dutzend Sachbücher veröffentlicht und, wenn er sich Notizen machte, mit einem Diktiergerät seine Gedanken aufgenommen. Ich habe einen ganzen Korb voller Aufnahmen, die ich nie angehört habe, weil ich Angst hatte, seine Stimme würde eine zu schmerzliche Sehnsucht nach ihm auslösen. Bei diesen Kartons hatte ich eine ähnliche Angst. Während meiner Amtszeit war ich viel zu beschäftigt gewesen, um das Material zu durchforsten. In den Jahren danach gelang es mir durch eine Flut anderer Projekte, mir einzureden, dass die Zeit noch nicht reif sei. Aber ich hatte lange genug gewartet.
Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen, holte ein paar Kisten vom Stapel und begann meine Reise. Ich entdeckte ein Bündel Papiere, die von verrosteten Büroklammern und von so spröden Gummis zusammengehalten wurden, dass sie sofort rissen, als sie sich dehnen sollten. Ein großer Teil des Materials war unspektakulär, aber hier und da stieß ich auf bemerkenswerte Fundstücke. Da waren etwa die Originalentwürfe der Vorträge, die mein Vater über die Persönlichkeiten gehalten hatte, für die er besondere Bewunderung hegte: Tomáš G. Masaryk, den Gründer der modernen Tschechoslowakei, und seinen Sohn Jan, den ehemaligen Vorgesetzten meines
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