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Winterjournal (German Edition)

Winterjournal (German Edition)

Titel: Winterjournal (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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empfandest du das Fehlen von Musik als überaus anregend, denn die Tänzer hörten die Musik in ihren Köpfen, den Rhythmus in ihren Köpfen, sie hörten, was nicht zu hören war, und da diese acht jungen Leute gute Tänzer waren, ja, ausgezeichnete Tänzer, dauerte es nicht lang, dass du den Rhythmus auch in deinem Kopf zu hören begannst. Also, kein Ton, kein Geräusch außer dem Tappen der nackten Füße auf dem Holzboden der Turnhalle. An Einzelheiten ihrer Bewegungen kannst du dich nicht erinnern, aber vor deinem inneren Auge siehst du sie springen und kreiseln, fallen und gleiten, Arme wedeln und Arme zu Boden sinken, Beine vorstoßen und rennen, Körper, die sich berühren und dann nicht berühren, und die Anmut und Gewandtheit dieser Tänzer beeindruckte dich, der schiere Anblick ihrer Körper in Bewegung schien dich in einen unerforschten Winkel deiner selbst zu versetzen, und nach und nach spürtest du etwas in dir aufschweben, fühltest Freude durch deinen Körper bis in deinen Kopf aufsteigen, eine physische Freude, die auch eine deiner Seele war, eine zunehmende Freude, die sich immer weiter und weiter in dir ausbreitete. Dann, nach sechs oder sieben Minuten, blieben die Tänzer stehen. Nina W. trat vor und erklärte den Zuschauern, was sie gerade gesehen hatten, und je länger sie sprach, je ernster und leidenschaftlicher sie die Bewegungen und Muster des Tanzstücks zu veranschaulichen versuchte, desto weniger konntest du ihr folgen. Nicht weil sie Fachausdrücke benutzte, mit denen du nichts anfangen konntest, sondern eher aufgrund der fundamentalen Tatsache, dass ihre Worte vollkommen unnütz waren, untauglich, die wortlose Darbietung zu beschreiben, die du gerade gesehen hattest, denn Worte konnten die Fülle und die brachiale Körperlichkeit dessen, was die Tänzer getan hatten, nicht vermitteln. Dann trat sie zur Seite, und die Tänzer legten aufs Neue los und riefen in dir sofort wieder die Freude hervor, die du vor der Unterbrechung empfunden hattest. Nach fünf oder sechs Minuten blieben sie wieder stehen, und Nina W. trat vor, und wieder konnte sie mit ihren Worten nicht ein Hundertstel der Schönheit zum Ausdruck bringen, die du gerade gesehen hattest, und so ging es noch eine Stunde lang hin und her, abwechselnd die Tänzer und die Choreographin, abwechselnd Körper in Bewegung und Worte, abwechselnd Schönheit und sinnlose Geräusche, abwechselnd Freude und Langeweile, und irgendwann begann sich etwas in dir zu öffnen, und du fielst durch den Spalt zwischen Welt und Wort, die Kluft, die das Menschenleben von unserer Fähigkeit trennt, die Wahrheit über das Menschenleben zu verstehen oder auszudrücken, und aus Gründen, die dir immer noch ein Rätsel sind, erfüllte dich dieser jähe Sturz durch die leere, unbegrenzte Luft mit einem Gefühl von Freiheit und Glück, und am Ende der Vorstellung warst du nicht mehr blockiert, nicht mehr mit den Zweifeln beladen, die dich seit einem Jahr niedergedrückt hatten. Du gingst in dein Haus im Dutchess County zurück, in das Arbeitszimmer, das dir seit dem Ende deiner Ehe als Schlafzimmer diente, und am nächsten Tag begannst du zu schreiben, drei Wochen lang schriebst du an einem Text von undefinierbarem Genre, weder Gedicht noch Prosa, Versuch einer Beschreibung dessen, was du in dieser Highschool-Turnhalle in Manhattan beim Tanzen der Tänzer und bei den Worten der Choreographin gesehen und empfunden hattest, schriebst zunächst viele Seiten voll und kürztest sie schließlich auf acht Seiten zusammen, die erste Arbeit deiner zweiten Inkarnation als Schriftsteller, die Brücke zu allem, was du in den Jahren seither geschrieben hast, und du erinnerst dich, dass du spät an einem Samstagabend während eines Schneesturms fertig wurdest, um zwei Uhr morgens, der Einzige in dem stillen Haus, der noch wach war, und es geschah noch etwas in dieser Nacht, etwas Furchtbares, das dich bis heute verfolgt, denn während du mit deinem Text fertig wurdest, den du schließlich
Weiße Räume
nanntest, starb dein Vater in den Armen seiner Freundin. Die schaurige Trigonometrie des Schicksals. Gerade als du ins Leben zurückfandest, fand das Leben deines Vaters sein Ende.
     
    Um tun zu können, was du tust, musst du gehen. Gehen trägt dir die Worte zu, erlaubt dir den Rhythmus der Worte zu hören, während du sie in deinem Kopf schreibst. Einen Fuß nach vorn, dann den andern nach vorn, der Doppelschlag deines Herzens. Zwei Augen, zwei Ohren, zwei Arme, zwei

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