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Winterjournal (German Edition)

Winterjournal (German Edition)

Titel: Winterjournal (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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Sonntagvormittag auf der fast leeren Autobahn, an den weißgrauen Himmel, der kilometerweit über der flachen Landschaft hing, an ein Auto, das gegen einen Baum am Straßenrand geprallt war, und die Leiche des Fahrers daneben im Gras, der Körper so reglos und verdreht, dass du sofort wusstest, der Mann ist tot, und da saßt du im Auto und dachtest an Anne Frank und ihre Schwester Margot, die beide in Bergen-Belsen gestorben waren, zusammen mit Zehntausenden anderen, den vielen tausend, die dort Typhus und Auszehrung, Mord und Folter zum Opfer gefallen waren. Dutzende von Filmen und Wochenschauen, die du über die Todeslager gesehen hattest, spulten sich in deinem Kopf ab, während du auf dem Beifahrersitz saßt, und je näher du und Michael eurem Ziel kamt, desto unruhiger und schweigsamer wurdest du. Von dem Lager selbst war nichts übrig. Die Gebäude waren dem Erdboden gleichgemacht, die Baracken niedergerissen und abtransportiert, die Stacheldrahtzäune verschwunden, stattdessen gab es dort jetzt ein kleines Museum, ein eingeschossiges Bauwerk, in dem plakatgroße Schwarzweißfotografien mit erklärenden Texten ausgestellt waren, ein düsterer Ort, ein furchtbarer Ort, aber so entblößt und keimfrei, dass du dir kaum vorstellen konntest, wie es dort zur Zeit des Krieges wirklich gewesen sein mochte. Du konntest die Gegenwart der Toten nicht fühlen, das Grauen der vielen Tausend, die in diesem Albtraumdorf hinter Stacheldraht zusammengepfercht waren, und während du mit Michael durch das Museum gingst (in deiner Erinnerung wart ihr die einzigen Besucher dort), wünschtest du, man hätte das Lager intakt gelassen, damit die Architektur der Barbarei für jedermann sichtbar geblieben wäre. Dann gingt ihr auf das Gelände des Todeslagers hinaus, aber das war jetzt eine grasbewachsene Fläche, eine schöne Wiesenlandschaft, die sich mehrere hundert Meter weit in alle Richtungen erstreckte, und ohne die überall aufgestellten Steine mit Angaben, wo die Baracken gestanden hatten, wo bestimmte Gebäude gestanden hatten, hätte man unmöglich erahnen können, was dort einige Jahrzehnte zuvor vor sich gegangen war. Schließlich kamt ihr zu einem Rasenstück, das ein wenig erhöht lag, vielleicht acht oder zehn Zentimeter höher als der Rest der Wiese, ein perfektes Rechteck von etwa sieben mal zehn Metern, groß wie ein sehr geräumiges Zimmer, und an einer Ecke befand sich eine Tafel im Boden, auf der stand:
Hier ruhen 50
000 russische Soldaten
. Du standest auf dem Grab von fünfzigtausend Männern. Es schien unmöglich, dass so viele Leichen in einen so kleinen Raum passen sollten, und als du dir diese Leichen unter dir vorzustellen versuchtest, die verknäuelten Leichname von fünfzigtausend jungen Männern, dicht gepackt ins tiefste aller tiefen Löcher, schwindelte dir beim Gedanken an so viel Tod, so viel Tod, konzentriert auf so engem Raum, und gleich darauf hörtest du die Schreie, ein gewaltiges Aufbrausen von Stimmen, das sich aus dem Boden unter deinen Füßen erhob, und du hörtest die Knochen der Toten heulen vor Pein, heulen vor Schmerz, aus voller Kehle und ohrenzerreißend heulen vor Qual.
Die Erde schrie
. Fünf oder zehn Sekunden lang konntest du sie hören, und dann verstummten sie.
     
    Im Traum mit deinem Vater sprechen. Seit vielen Jahren besucht er dich in einem dunklen Raum auf der anderen Seite des Bewusstseins, setzt sich zu langen, ungezwungenen Unterhaltungen mit dir an einen Tisch, ruhig und besonnen, immer freundlich und wohlwollend, immer aufmerksam auf das, was du zu ihm sagst, aber wenn der Traum vorbei ist und du aufwachst, kannst du dich nicht an ein einziges Wort von dem erinnern, was ihr gesprochen habt.
     
    Niesen und lachen, gähnen und weinen, rülpsen und husten, dich am Ohr kratzen, dir die Augen reiben, die Nase putzen, dich räuspern, an den Lippen knabbern, mit der Zunge an den unteren Schneidezähnen entlangstreichen, frösteln, furzen, Schluckauf haben, dir den Schweiß von der Stirn wischen, mit den Händen durchs Haar fahren – wie oft hast du das alles getan? Wie oft die Zehen gestoßen, die Finger gequetscht und den Kopf angeschlagen? Wie oft bist du gestolpert, ausgerutscht und gestürzt? Wie oft hast du mit den Augen gezwinkert? Wie viele Schritte getan? Wie viele Stunden mit einem Stift in der Hand verbracht? Wie viele Küsse gegeben und bekommen?
     
    Deine neugeborenen Kinder in den Armen halten.
     
    Deine Frau in den Armen halten.
     
    Deine nackten Füße

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