Winterlicht
müssen.“
„Wohin sollen wir sie bringen, ehrenwerte Kiria?“, mischte sich Sir Topher beschwichtigend ein.
Die Hohepriesterin zögerte. „Sie sagt, die Antwort auf unsere Fragen warte im Königreich Sorel.“
Gütiger Himmel. Finnikin hätte Sarnak oder Yutlind vorgezogen oder seinetwegen noch das barbarische Charyn, ja sogar die Hölle. Alles wäre weniger gefährlich gewesen als Sorel.
„Und Ihr glaubt, Balthasar wird dort irgendwie in Erscheinung treten?“, fragte Sir Topher.
„Ich weiß nicht, was ich glauben soll. Die Göttin hat mich nicht mit der Sehergabe beschenkt. Alles was ich für Euch habe, ist dieses Mädchen und der Name, den es genannt hat.“ Wieder wanderte ihr Blick zu Finnikin. „Vielleicht sind sie und der junge Mann dazu erwählt, den verschollenen Prinzen seiner Bestimmung zuzuführen.“
An der Tür war ein Geräusch zu hören. Die Hohepriesterin streckte die Hand aus und eine Gestalt trat aus dem Schatten.
Das Mädchen hatte den Teint der Bergmenschen von Lumatere, eine golden schimmernde Haut, viel dunkler als der hellhäutige Finnikin. Ihr Kopf war kahl geschoren, aber Finnikin vermutete, dass ihre Haarfarbe ihren dunklen Augen entsprach. Sie trug ein graues Gewand aus derbem Stoff; auf diese Weise würde sie auf der Reise bei Fremden wenigstens keine unerwünschte Aufmerksamkeit erregen.
„Sir Topher, Finnikin, ich darf Euch die Novizin Evanjalin vorstellen.“
Das Mädchen hatte die Augen niedergeschlagen. Finnikin fiel auf, dass ihre Hände zitterten; als sie selbst es bemerkte, ballte sie sie schnell zu Fäusten.
„Wovor hast du Angst?“, fragte er in der Sprache von Lumatere.
„Die meiste Zeit hat sie in Sarnak zugebracht“, erklärte die Hohepriesterin. „Sie hat sarnakisch gesprochen, als sie für kurze Zeit ihr Schweigen brach.“
Finnikin konnte seine Enttäuschung nicht länger verbergen. Er zog Sir Topher beiseite. „Wir wissen nichts über sie“, sagte er auf Belegonisch, damit die Novizin und die Hohepriesterin ihn nicht verstanden. „Die Sache kommt mir doch recht seltsam vor.“
„Genug davon, Finnikin“, mahnte Sir Topher energisch. Zur Hohepriesterin gewandt sagte er: „Hat sie seitdem noch einmal gesprochen?“
Die Hohepriesterin schüttelte den Kopf. „Sie hat ein Schweigegelübde abgelegt. Evanjalin hat viel durchgemacht, aber ihr Glaube ist stark. Wenigstens den sollten wir ihr lassen.“
Sir Topher nickte. „Wenn wir den Rückweg noch bei Ebbe schaffen wollen, müssen wir gleich aufbrechen.“
Finnikin wunderte sich darüber, dass Sir Topher sich so rasch entschieden hatte. Aber ein Blick in die Augen des alten Mannes warnte ihn davor aufzubegehren. Mit verkniffenem Gesicht sah Finnikin zu, wie die Hohepriesterin den Kopf des Mädchens in ihre Hände nahm und es zärtlich auf die Stirn küsste. Evanjalin schloss die Augen. Ihre Mundwinkel zuckten, doch gleich darauf war ihre Miene wieder so ausdruckslos wie zuvor. Sie ging hinaus, ohne sich noch einmal umzudrehen.
Der Abstieg war ebenso schwindelerregend wie der Aufstieg und wurde noch erschwert durch die Last in Finnikins Herzen. Dieses Mädchen quer durchs Land zu eskortieren, passte überhaupt nicht zu dem Plan, den Sir Topher und er in den ersten Tagen des Winters geschmiedet hatten. Die Unwägbarkeiten des neuen Auftrags behagten ihm ganz und gar nicht.
Als sie den Fuß des Hügels erreicht hatten, kamen sie an einer Gruppe von Pilgern vorbei, die auf der Erde knieten. Einer von ihnen streckte die Hand aus, um das Gewand der Novizin zu berühren.
„Deine Füße“, sagte Finnikin, dem erst jetzt auffiel, dass sie barfuß ging. „Wir können es uns nicht leisten, im Schneckentempo zu reisen, nur weil du keine Schuhe hast.“
Das Mädchen gab keine Antwort und ging einfach weiter. Erst als sie schon ein gutes Stück zurückgelegt hatten, drehte sie sich noch einmal um und warf einen letzten Blick auf das Kloster. Und da sah Finnikin Not und Verlassenheit in ihrem Blick.
Inzwischen umspülte das Wasser schon ihre Knie, und Finnikin fürchtete, dass sie nicht mehr rechtzeitig der Flut entrinnen würden. An diesem Ort sei der Wechsel der Gezeiten schnell und heftig, hatte man ihm eingeschärft, schon mancher Pilger sei ertrunken.
Er packte Evanjalin am Arm und zog sie mit sich. Auf einmal schien sie ihm gar nicht mehr verletzlich, in ihren Augen sah er sogar etwas wie Triumph aufblitze n – als hätte die Novizin nun endlich ihren Willen durchgesetzt.
Kapitel 2
I n
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