Winterlicht
Palast niedergemetzelt wurden und die jüngste, Prinzessin Isaboe, im Wald von Lumatere den Tod fand. Jenen Tagen, in denen Balthasars blutiger Handabdruck an einer Außenmauer des Königreichs entdeckt wurde und die Menschen von Lumatere sich auf der Suche nach einem Schuldigen gegenseitig bekriegten. Jenen Tagen, in denen der von allen verachtete Neffe des toten Königs das Reich mit sechshundert Mann besetzte und anfing, die Häuser der Waldbewohner niederzubrennen. Jenen Tagen, in denen Hauptmann Trevanion des Hochverrats beschuldigt und in ein weit entferntes Gefängnis verschleppt wurde. Jenen Tagen, in denen seine geliebte Lady Beatriss, nachdem ihr Kind tot zur Welt gekommen war, in den Kerkern des Palastes starb. Jenen Tagen, in denen Seranonna, die Matriarchin der Waldbewohner, noch auf dem Scheiterhaufen einen Blutfluch aussprac h – einen Fluch, der das ganze Land erzittern und die Erde bersten ließ, sodass jeder, der sich nicht rechtzeitig in Sicherheit bringen konnte, in den gähnenden Schlund stürzte. Dieser Fluch brachte Dorfhütten zum Einsturz und ließ die Fundamente des Palastes erbeben. Die Menschen trampelten übereinander hinweg, und diejenigen, denen die Flucht gelang, zogen sich in das Tal der Stille vor den Toren des Reichs zurück. Dann errichteten dunkle Mächte eine unsichtbare Mauer um das Königreich und der Fluch riss das Volk auseinander.
Dies ist die Geschichte, wie sie denen überliefert wurde, die in jenen Tagen noch nicht geboren waren, niedergeschrieben im Buch von Lumatere , damit sie der Nachwelt für immer erhalten bleibe.
Es ist die Geschichte derer, die im Königreich gefangen waren und von denen man nie wieder etwas hörte, und die Geschichte all jener Flüchtlinge, die fortan ein elendes Leben allein in der Fremde führten.
Bis zu dem Augenblick, zehn Jahre später, als Finnikin von den Felsen sich aufmachte, wieder einen Felsen zu erklimme n …
Erster Teil
Die Novizin
Kapitel 1
A ls es endlich in der Ferne auftauchte, kam es Finnikin im ersten Augenblick wie ein Trugbild vor, hier in diesem entseelten Königreich am Ende der Welt.
Immer wieder hatte er die Leute sagen hören, dieses Land sei von den Göttern verlassen. Doch da lag es, wie um das Gegenteil zu beweisen, hoch oben auf felsigem Grund, eingehüllt in blaugrauen Nebel: das Kloster der Göttin Lagrami.
Von Finnikins Platz aus wirkte die Oberfläche der weiten Ebene, die zu dem befestigten Zugang führte, weich wie Wüstensand. Er sah eine lange Reihe von Pilgern mit gebeugten Häuptern, die einen Sack über der Schulter und einen Wanderstab in der Hand trugen. Wie Ameisen zogen sie in einer endlosen Linie über die Ebene, der unbarmherzigen Weite schutzlos ausgeliefert.
„Wir müssen uns beeilen“, sagte der Oberste Ratgeber des Königs in der Sprache von Sarnak. Nachdem sie die Grenze zu Sendecane überschritten hatten, hatte Sir Topher darauf bestanden, dass sie von jetzt an nur noch in der Sprache des Nachbarkönigreichs redeten. Zwei Nächte zuvor, als sie in einer Herberge übernachtet hatten, hatte er laut verkündet, dass sie Pilger seien: fromme Männer, die ans Ende der Welt gereist waren, um der hohen Göttin Lagrami in ihrem prächtigen Tempel zu huldigen. Alles andere hätte in diesem Teil des Landes Argwohn und Furcht erregt, und Finnikin hatte schon erfahren müssen, dass Angst die Menschen gefährlich machte.
Nach einiger Zeit veränderte sich der Untergrund. Was Finnikin für Sand gehalten hatte, stellte sich als dicke Lehmschicht heraus, die seinen Gleichgewichtssinn auf eine harte Probe stellte. Sie überquerten den Meeresboden; bei Einbruch der Dunkelheit würde das Wasser zurückkehren, dann konnte man diesen Ort erst wieder bei der nächsten Ebbe verlassen.
Vom unteren Eingang der Tempelanlage wanden sich breite Steinstufen hinauf bis zum Gipfel. Finnikin und sein Begleiter machten sich an den Aufstieg und überholten dabei die Pilger, die vor dem Willkommensschrein verharrten. Finnikins lederne Stiefel boten kaum Schutz auf dem kalten, harten Untergrund, und er blickte unwillkürlich zurück zu den Pilgern, von denen, wie er wusste, einige den steilen Weg auf Knien zurücklegen würden, als Zeichen der Demut gegenüber ihrer Göttin. In den vergangenen Jahren hatte er schon mehrfach erlebt, wozu blinder Glaubenseifer führen konnte, und er fragte sich, wie viele von diesen Pilgern Flüchtlinge aus Lumatere waren, die hier Erlösung suchten.
Etwas weiter oben gab es keine
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