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Winterreise

Winterreise

Titel: Winterreise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerhard Roth
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und aufeinandergestapelte Stühle im Freien standen. Die Masten von Schiffen ragten sinnlos in den Himmel. »Du warst in Gedanken früher immer woanders«, sagte Anna. »Es war dir egal, was ich gemacht habe, du warst unabhängig von mir. Aber du hast mir die Freiheit nur gegeben, weil du geglaubt hast, ich bin abhängig von dir. Ich war es auch. Alles, was ich getan habe, habe ich getan, weil ich von dir loskommen wollte. Ich wollte nicht mehr, daß du mir so viel bedeutest, und andererseits habe ich dich zu sehr geliebt, um dich zu verlassen. Im nachhinein, wenn es geschehen war, ist es mir immer wie nichts erschienen. Ich habe dir auch immer gesagt, es war nichts, weil nichts geschehen war, was von Bedeutung gewesen wäre. Ich hatte eigentlich nur Angst davor, daß du es entdecktest und mich deshalb verließest. Ich hatte keine Schuldgefühle, weil es mir im nachhinein bedeutungslos vorkam.«
    Der Kellner hatte durch die Veranda gelugt und ließ sich herab, eine Bestellung aufzunehmen. Bunte Ruderboote schaukelten in der Mole vor dem Ristorante. »Du hast immer darauf geachtet, mir zu zeigen, daß ich nicht das mindeste Recht auf dich hatte«, sagte Anna. »Du kümmerst dich jetzt nicht mehr darum, mir das zu zeigen. Du sagst nichts, und ich verlange nichts von dir. Die ganze Zeit habe ich darüber nachgedacht, und ich bin auf den Gedanken gekommen, daß du damals Schluß machen wolltest. Oft hatte ich den Eindruck, ich sei dir lästig gewesen. Ich war überrascht, daß es dich so getroffen hat, was ich dir gesagt habe.« Nagl sah hinaus. Ein Bootsverleiher saß in einem Raum ohne Tür vor einem Heizöfchen. Auf dem Steinboden lagen eine Menge Ruderboote, deren Farbe abgeblättert war. In einem größeren Boot, das innen gerippt und rot war und Nagl an den Gaumen eines riesigen Fisches erinnerte, lag ein Sessel im Regenwasser.
    Er schwieg. Es war wahr, was sie sagte. Er hatte sich keine weiteren Gedanken um sie gemacht. Manchmal war er froh gewesen, wenn er allein gewesen war. Er hatte auch daran gedacht, mit ihr Schluß zu machen, aber dann hatten sie miteinander geschlafen, und er war nicht losgekommen von ihr. Auch er hatte es mit anderen Frauen, Gelegenheitsbekanntschaften und vergangenen Geliebten, gemacht, aber er hatte es ihr verschwiegen. Sie hätte geweint, ein paar Tage, ein paar Wochen, aber sie hätte es rascher überwunden. Er war schwerfälliger, empfindlicher und eitler als sie. Vor allem war sie großzügiger als er. Mit Erschrecken hatte er festgestellt, daß auch er, im nachhinein, wenn er mit einer anderen Frau zusammengewesen war, nur Angst vor der Entdeckung empfunden hatte, und so hatte er seine Abenteuer immer rasch beendet. Er dachte, daß es andere Männer gab, die wußten, wie Anna stöhnte, welche Eigenheiten sie hatte, wie sie nackt aussah. Anna sagte: »Oft wollte ich mit dir sprechen, aber du warst nur ungehalten.«
     
    Auch das stimmte. Alles war ihm zu rasch gegangen. Ihre Vertraulichkeit, ihre praktische Veranlagung. Ihre Erfahrenheit hatte ihn gestört. In seinen Augen war sie nicht sehr erfahren gewesen. Aber er wußte jetzt, daß das ein Wunschbild gewesen war, das er immer hatte, wenn er sich verliebte. Er hatte es zur Kenntnis nehmen müssen. Und wieder war er noch erregter gewesen, obwohl es ihn gleichzeitig verletzt hatte. Das war ein seltsamer Mechanismus. Er fürchtete sich vor dem Schmerz, betrogen zu werden, und doch hatte er nie eine solche Erregung gespürt wie gerade dann. Der Gendarm und seine Frau fielen ihm ein. Genauso, wie er die Frau des Gendarms behandelt hatte, genauso, wie er sie geliebt hatte, hatten andere Männer Anna geliebt. Er konnte von sich auf andere schließen, von seinen Gefühlen, seinem Verhalten auf das der anderen. Er sah in ihr Gesicht und dachte daran, wie sie jemanden geliebt hatte. Er schaute wieder zur Veranda hinaus, zu den Booten. Dort, wo die Boote lagen, war eine Eisentür, mit großen, bunten Blumen bemalt, als ob es Sommer wäre. Er schaute immer dasselbe an: das Meer, die Boote und Anna.
18
    Als er das Meer vom Zug aus gesehen hatte, war es ihm wie ein großes Versprechen vorgekommen, das flimmernde Licht, die Biegung am Horizont, die Weite, aber von hier sah es kalt und dunkel aus, und die leere Hafenstraße fiel ihm wieder ein, die davorlag.
    Er bezahlte, und sie gingen die Stiege zwischen den Booten hinauf. Ab und zu sahen sie, als sie weiter in die Stadt hineingingen, durch Seitenstraßen große Schiffe auf dem Meer, die ganz

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