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Winterreise

Winterreise

Titel: Winterreise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerhard Roth
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nahe herangefahren waren. Vor einer grünen Kirche mit abgeblätterter Farbe stand ein Marineoffizier mit goldenen Streifen auf der Uniform und üppigem Schnurrbart. Kinder schrieen, umringten sie und folgten ihnen. Am Abend tranken sie in der Galleria Umberto Wein. Das Licht fiel durch ein riesiges, gewölbtes, von Eisenträgern gehaltenes Glasdach wie in einen Bahnhof. Draußen begann es zu regnen. Der Abendhimmel schimmerte gelb, und die Wolken waren fliederfarben. Auf der Piazza Dante lag eine alte Frau im schwarzen Mantel mit weißen Strümpfen auf einer Kirchenstiege und schlief. Nagl saß in einer Trattoria unter einem riesigen Ventilatorflügel, betrunken, zwischen den weißgedeckten Tischen, im hellen elektrischen Licht, draußen war es Nacht, und die Menschen gingen vorbei, die Autos hupten, und die Gäste aßen langsam und sorgfältig und waren schön gekleidet, die Kellner stellten klappernd Geschirr ab, und im Radio spielte Musik.
19
    Die Spitze des Vesuvs war von Schnee bedeckt. Nagl schaute stumm aus dem fahrenden Taxi. Er war in der Nacht wach geworden und in der Finsternis dagelegen. Er hatte Anna zu wecken versucht, aber sie hatte tief geschlafen. Er hatte das Gefühl, weder vor noch zurück zu können. So lag er in der Finsternis und atmete. »Es ist egal, was ich tue«, hatte er gedacht. »Wenn ich nicht mehr zurückkomme, wenn ich Anna verlasse, kommt ein anderer nach. Ich muß mich darin üben, an etwas anderes zu denken. Ich werde zum Schulinspektor gehen, und während ich mit ihm sprechen werde, werde ich an etwas anderes denken. Jetzt, wo das Leben nicht mehr vor mir liegt, wo es richtig angefangen hat, jetzt ist auf einmal nichts anderes da als sinnlose Gedanken. Ich habe alles wie von selbst gemacht. Ich war ehrgeizig, daß alles, was ich gemacht habe, ausgeschaut hat, als ob ich es will. In Wirklichkeit ist es so gegangen.«
    Die Straße stieg an, links und rechts lagen Häuser, vor denen Pfirsichbäume blühten, Gärten mit Oliven, Feigen, Zitronen und Weintrauben, Margeriten und Mimosen blühten, und kleine Wäldchen von Akazien und Pinien lösten sich ab. Aber kurz darauf quoll erstarrtes vulkanisches Gestein aus der Erde. Nagl dachte plötzlich an seinen Großvater. Sein Großvater hatte an die Arbeit geglaubt. Die Arbeit war der Sinn gewesen, weil er nur mit Hilfe der Arbeit hatte überleben können. Es war ganz egal, wie die Arbeit beschaffen war. Ohne Arbeit zu leben, war wie eine schleichende, tödliche Krankheit, es war das Bewußtsein des Todes, das langsam auf ihn zukam. Und so hatte er gearbeitet von Kindheit an. In der Zeit der Arbeitslosigkeit hatte er Nächte über dem Schachbrett verbracht, mit sich selbst als Gegner, bis er wieder Arbeit gefunden hatte. Nach seiner Pensionierung wohnte er bei seiner Schwester in einem dunklen Zimmer in Untermiete. Vor dem offenen Fenster, das auf einen Hinterhof mit einem Kastanienbaum hinausging, spielte er mit sich selbst Schach. Nach seinem Tod waren seine Möbel in einer halben Stunde zusammengeräumt. Die Leute ekelten sich vor seinen Möbeln, weil es die Möbel eines Toten waren. Als er begraben wurde, wurde »Das Lied der Arbeit« gespielt.
     
    Nagl hatte sein eigenes Leben nie verstanden. Er konnte es nicht erklären. Solange er arbeitete und an die Arbeit glaubte, war es nicht schwierig. Er fragte sich nicht, was geschehen würde. Unter ihnen breitete sich der Golf von Neapel aus, die Stadt mit kleinen Häusern und das Meer, das von weitem und von oben gesehen wieder schön war und voll Hoffnung. Vor ihm lag der Vesuv, der Schnee und die Wolken machten ihn für Nagl jetzt erhaben. Die Straße fraß sich durch rotbraune, erkaltete Lavahalden. Sie fuhren den Lavaströmen nach, vereinzelt sahen sie Kastanien und Pinien und Föhren, an denen Zapfen hingen. Weiter oben war die Lava von Schnee bedeckt, anfangs nur flächenweise, so daß sie grau, wie von einem Schimmelpilz befallen, aussah, kurz darauf war die Straße von Schnee und Eis glatt, und das Taxi kroch nur langsam und rutschend in die Höhe. Anna unterhielt sich mit dem Chauffeur. Nagl betrachtete ihr Gesicht, bis sie ihn anschaute. »Warum bist du stumm?«, fragte sie lachend. Der Wagen hielt hinter dem Observatorium. Ein kleiner Mann mit einer weißen Kappe kam aus dem Observatorium und bestimmte, daß er sie auf den Vesuv führen würde. Er hatte nur zwei Zähne und trug eine Tasche. Sie stiegen den verschneiten Weg in Serpentinen hoch, umgeben von Schnee und dichtem,

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