Winterreise
hatte gedacht, aus der Welt gefallen zu sein, und jetzt war ihm, als erlebte er es wirklich, wie es ist, wenn man aus der Welt gefallen ist. Er empfand Sehnsucht nach Menschen. Als sie zum Observatorium kamen, lag das Tal schwarz unter ihnen. Der Fahrer fror mit hochgestelltem Kragen hinter dem Lenkrad. Vorsichtig fuhr er die vereiste Straße hinunter.
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Nach den letzten Kehren bogen sie im Sonnenlicht zum Frachthafen ab, und da lagen die großen Dampfer aus London, Marseille, Hamburg und Dubrovnik. Als er zum rückwärtigen Fenster hinaussah, erkannte er die Via Nuova della Marina. Während sie sich von der breiten Hafenstraße wegbewegten, sah er auch jetzt keinen Menschen und kein Fahrzeug bis auf eine Straßenbahn, die immer kleiner wurde. Er dachte an den Großvater und schaute unwillkürlich zum Himmel nach dem Zeppelin aus. Ein Park mit Palmen, Laubbäumen und einem Springbrunnen glitt an ihnen vorbei, Menschen gingen darin spazieren, und Nagl empfand wieder dieselbe Sehnsucht nach ihnen wie auf dem Vesuv. Er erinnerte sich an die Sonntagvormittage, wenn sein Großvater mit ihm und seinem älteren Bruder in den Grazer Stadtpark gegangen war, um vor dem Springbrunnen ein Konzert zu hören. Die Musikkapelle war im Pavillon gesessen, und durch die Kastanienblätter waren Lichtmuster auf die Zuschauer gefallen. Eigentlich waren die Brunnenkonzerte immer langweilig gewesen. Nagl war nur wegen der vielen Menschen gerne hingegangen. Auf dem Heimweg hatte der Großvater für sie wäßrig kaltes Himbeereis in Teigtüten gekauft. Das war etwas Besonderes, weil es für den Großvater etwas Besonderes war, ihnen etwas zu kaufen. Er verband keine Erklärung damit, aber daraus, daß er ihnen zärtliche Worte zugeflüstert und über die Haare gestrichen hatte, hatte Nagl entnommen, daß er an seine eigene Kindheit gedacht hatte. Er war in Istanbul geboren. Sein Vater, ein Glasbläser aus Österreich, hatte dort in einer italienischen Fabrik gearbeitet. Zwei Geschichten hatte der Großvater an den Sonntagvormittagen abwechselnd erzählt: Wie sein Bruder gestorben und mit einem Schiff auf die andere Seite des Bosporus zum christlichen Friedhof gefahren worden war und wie er in Istanbul Krabben zu fischen versucht hatte. Immer hatten die großen Schiffe mit den schwarzen Rauchwolken aus den Schornsteinen eine Rolle gespielt. Sie fuhren jetzt neben Bahngeleisen und vereinzelten schmutzigen Häusern am Meer entlang. Nagls Schuhe waren durchnäßt und seine Füße kalt. Anna schaute unbeteiligt zum Fenster hinaus, aber ihre Hand lag auf seinem Glied und drückte es. Wenn sie mit dem Fahrer sprach, beugte sie sich vor, damit er nichts sehen konnte, und nur einmal warf sie Nagl einen Blick zu, der im Spaß Einverständnis suchte. Er trug einen Burberry, und sie war mit einer Hand unter den Mantel gekommen, hatte den Reißverschluß seiner Hose geöffnet und nach seinem Schwanz gegriffen. Er konnte mit seinem Schwanz zucken, und jedesmal, wenn er zuckte, drückte sie ihn. Sie fuhren jetzt landeinwärts und hatten das Meer hinter sich gelassen. Vor einem Gärtchen mit Obstbäumen wusch ein Mann mit einer Baumspritze auf dem Rücken seine Stiefel mit einem Schlauch ab. Die Bäume waren ohne Blätter, aber dahinter bedeckten grüne Olivenhaine einen Bergrücken. Anna nahm ihre Hand von seinem Glied und hielt ihr Gesicht aus dem Fenster. Der Vesuv lag weit hinter ihnen. Nicht nur, daß er eine Silhouette vor dem Himmel war, er war für Nagl jetzt schon eine merkwürdig weit zurückliegende Erinnerung. Nagl dachte an den riesigen Krater und daran, wie er in die Tiefe gestarrt hatte, als blickte er auf ein fremdes Gestirn. Und dann hatte die Sonne den Nebel um sie herum fluoreszierend leuchten lassen, als hätten sie sich plötzlich auf der Sonne selbst befunden, umhüllt von glühenden Gasen.
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Der Chauffeur war zurückgeblieben, und der Kassierer mit dem Pepitahut über dem dunkelhäutigen Gesicht führte sie über den Kraterboden der Solfatara, auf dem ihre Schritte hohl klangen. Es war ein flaches, weites Stück Erde, bleigrau und tot, ohne Pflanzen. Nagl spürte die Wärme unter den Füßen und doch empfand er keine Befremdung in dem zinnoberroten bewaldeten Kegel, in dem die Erde Blasen warf, dampfte, brodelte und in dem er den Gestank von Schwefel einatmete. Die Pinien am Rande des Kraters schienen ihm wie Tintenkleckse am Himmel, gelber Ginster blühte an den Hängen zwischen Mimosen, Palmen, Rubiae und Eukalyptusbäumen. Am
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