Wo die Nelkenbaeume bluehen
die sie immer bei sich trug, aus der Handtasche. In einem der älteren Einträge hatte er einige Kindheitserinnerungen beschrieben. Dabei hatte er auch ein Haus in Stone Town – der berühmten Altstadt von Sansibar Stadt, die auf Kiswahili Mji Mkongwe hieß – erwähnt, in dem seine Familie einige Jahre gelebt hatte. Wenn es ihr gelang, dieses Haus zu finden, würde sie vielleicht auch mehr über Andys sansibarische Verwandtschaft erfahren. Womöglich wohnte sogar noch einer von ihnen dort, oder zumindest jemand, der ihr sagen konnte, wo die Familie heute zu finden war.
Leider war nach dem Tod von Andys Mutter sämtlicher Kontakt zu den auf Sansibar lebenden Verwandten abgerissen. Für Andys Vater waren die Erinnerungen an die glückliche gemeinsame Vergangenheit auf der Insel zu schmerzhaft gewesen, und als halbwüchsiger Junge hatte Andy keine andere Wahl gehabt, als diese Entscheidung zu akzeptieren.
Daher hatte Lena kaum einen Anhaltspunkt, wohin sie sich wenden sollte. Sie war nach langen Monaten lähmender Untätigkeit völlig überstürzt aufgebrochen, weil sie es zu Hause einfach nicht mehr ausgehalten hatte. Deshalb war sie nicht dazu gekommen war, irgendetwas vorzubereiten oder einen Plan zu fassen. Dass sie noch Impfschutz gegen Gelbfieber besaß, war ebenso ein glücklicher Zufall gewesen wie die Tatsache, dass sie bereits über ein gültiges Visum für Tansania verfügte. Andy und sie hatten eigentlich nach Afrika reisen wollen, doch die Nachricht von ihrer Schwangerschaft hatte sie ihre Pläne aufschieben lassen – wie leider so viele andere, was Lena heute zutiefst bereute.
Bei einem Straßenhändler kaufte sie sich eine Stadtkarte in englischer Sprache und ließ sich anhand des Plans erklären, wo sie hinmusste. Es sah ganz einfach aus, und es war zudem nicht sonderlich weit von ihrem augenblicklichen Standort entfernt.
Mit aufgeregt klopfendem Herzen marschierte sie los, immer tiefer hinein in das Gewirr aus engen Gassen und Straßen. Bald schon drang sie in Regionen vor, in die sich offenbar nur selten ein Tourist verirrte. Leinen, an denen frisch gewaschene Wäsche im Wind flatterte, waren zwischen den Hausfassaden gespannt. Aus den offenen Fenstern drangen Gesprächsfetzen, hier und da lärmte ein vereinzeltes Fernsehgerät. Es wurde zunehmend dunkler. Der Himmel nahm die Farbe von altem, vertrocknetem Papyrus an, und die Schatten in den Gassen wurden länger. Als sie an eine Straßengabelung gelangte, hielt Lena nach einem Hinweis Ausschau, in welche Richtung sie sich wenden musste. Doch es gab weder Straßenschilder noch sonst etwas, das ihr die Orientierung erleichtert hätte.
Im schwachen Dämmerlicht studierte sie noch einmal ihre Karte. Eigentlich konnte es nicht mehr allzu weit sein. Wenn sie den Straßenhändler richtig verstanden hatte, dann musste sich das Haus, in dem Andys Familie gelebt hatte, ganz in der Nähe befinden. Kurz entschlossen wandte sie sich nach rechts.
Es dauerte nicht lang, und die Gegend wurde wieder etwas belebter. Dunkle Gesichter verschmolzen mit den Schatten hinter glaslosen Fensterlöchern, und Lena spürte, wie neugierige Blicke ihr folgten. Wirklich wohl fühlte sie sich nicht. Ihr hellblondes Haar und der blasse Teint wiesen sie eindeutig als Fremde aus, die nicht hierher gehörte.
Die Häuser standen nun weiter auseinander, und ihre Architektur erinnerte Lena an die hässlichen Plattenbauten von Berlin-Marzahn und Neukölln – nur, dass sie sehr viel heruntergekommener aussahen. Der Straßenbelag wies Schlaglöcher auf, in denen sich brackiges Wasser gesammelt hatte. Dunkelhäutige Kinder in abgerissener Kleidung spielten, indem sie kleine Boote aus geflochtenen Palmwedeln darauf treiben ließen.
Hier sollte Andy einmal gewohnt haben? Lena konnte es sich beim besten Willen nicht vorstellen. Es gab nur eine logische Erklärung: Sie musste sich irgendwo im Gewirr der Gassen verirrt haben.
Ein flaues Gefühl machte sich in ihr breit. Es war verrückt gewesen, einfach so loszuziehen. Was hatte sie sich bloß dabei gedacht? Vielleicht war sie wirklich zu überstürzt von Berlin aus aufgebrochen. Sie hatte am Abend vor ihrer Abreise nur einmal kurz im Internet recherchiert. Und das hatte sie jetzt davon.
Sie atmete tief durch und zwang sich zur Ruhe. Sie durfte nicht die Nerven verlieren, denn damit war niemandem geholfen. Am besten war es wohl, sich auf den Rückweg zum Hotel zu machen. Morgen, bei hellem Tageslicht, sah die Welt sicher schon wieder
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