Wo die Nelkenbaeume bluehen
PROLOG
Indischer Ozean, Juli 1887
Wie ein Pfeil schoss der Rumpf des Dampfseglers Fortuna über den Wellenkamm hinweg. Einen Augenblick lang hing er scheinbar schwerelos in der Luft, ehe er sich schließlich absenkte und von aufspritzender Gischt begleitet ins Wasser eintauchte. Als der Ruf: „Land in Sicht!“ erklang, kamen die meisten Passagiere an Deck und drängten sich an die Reling. Jeder wollte als Erster einen Blick auf die Insel werfen, die für die meisten von ihnen das Land ihrer Träume darstellte. Doch anstatt sie zu sehen, nahmen sie zunächst einmal den charakteristischen Geruch wahr, der Sansibar schon aus vielen Kilometern Entfernung ankündigte – den schweren aromatischen Duft der Gewürznelken.
„Schau nur, Papa!“, rief ein kleines Mädchen, das von seinem Vater auf dem Arm gehalten wurde, sodass es über alle Köpfe hinwegblicken konnte, entzückt. Es deutete auf die Küstenlinie Sansibars, die verschwommen im dunstigen Morgenlicht in Sicht kam. Sein hübsches Gesicht war vor Aufregung gerötet. „Das Paradies!“
Nach und nach schälte sich die Insel aus dem saphirblauen Indischen Ozean. Blütenweißer Sandstrand, sanft gewellte Hügel und hoch gewachsene Kokospalmen – ein Bild wie aus einem Traum. Begeisterung und Vorfreude ließen die Augen der Menschen erstrahlen. Die Strapazen der langen Reise waren vergessen. Sie lachten und tuschelten. Frauen umarmten sich, Männer klopften sich gegenseitig auf die Schultern. Ihre Kinder, vom Fieber der Erwartung ergriffen, hielten sich an den Händen und tanzten Ringelreihen. Ein jeder wurde von der ausgelassenen Stimmung an Bord der Fortuna angesteckt. Sogar die Lippen des ersten Maats, dessen Miene üblicherweise mürrisch und verschlossen war, umspielte der Anflug eines Lächelns.
Nur auf eine Person – eine junge Frau, die sich ein wenig abseits des Trubels hielt – schien der Enthusiasmus der Reisenden nicht abzufärben.
Reglos stand sie da. Die graublauen Augen blickten scheinbar ins Leere, doch in Wahrheit nahmen sie alles auf, was sich um sie herum abspielte. Mit einer unbewussten Handbewegung strich sie sich eine Strähne ihres honigblonden Haares, die sich aus ihrem Flechtzopf gelöst hatte, zurück hinters Ohr. Sie schloss die Augen. Was würde die Zukunft ihr bringen? Erwartete sie am Ende ihrer Reise das Land ihrer Träume? Oder würde Sansibar für sie die Insel der Enttäuschungen werden?
Was auch immer zutreffen mochte – die Antwort auf diese Frage lag nur noch wenige Seemeilen entfernt …
1. TEIL
1. KAPITEL
Gegenwart
Lena Bluhm hatte die Augen fest geschlossen, als die winzige Propellermaschine auf die Landebahn aufsetzte. Solange sie zurückdenken konnte, litt sie unter Flugangst. Doch so schlimm wie dieses Mal war es schon lange nicht mehr gewesen.
Jedes Jahr steigen mehr als vier Milliarden Menschen in ein Flugzeug, Lena! Und die weitaus meisten von ihnen kommen heil ans Ziel .
Sie hielt den Atem an, als der Pilot so scharf bremste, dass Lena in ihren Sicherheitsgurt gepresst wurde. Ihre Finger krallten sich in den Kunstlederbezug der Armlehnen. Ihr stand der kalte Schweiß auf der Stirn. Es beruhigte sie keineswegs, dass der Boden sie nun zurückhatte. Immer und immer wieder gingen ihr die Worte des Selbsthilfebuches durch den Kopf, das sie anlässlich ihres ersten Englandurlaubs von Andy geschenkt bekommen hatte. Die meisten Flugzeugunglücke geschehen entweder beim Start oder bei der Landung .
Für einen winzigen Augenblick ließ der Gedanke an Andy sie alles andere vergessen – sogar ihre Angst. Doch der Moment währte nur so lange, bis sie die Augen öffnete und durch das Fenster das Flughafengelände an sich vorüberrasen sah. Sofort kniff sie die Lider wieder zu und hielt den Atem an. Und sie entspannte sich erst, als die Maschine ausrollte und schließlich zum Stehen kam.
„Jetzt haben Sie’s geschafft, min Deern “, sagte sie silberhaarige Dame, die neben Lena saß und deren Dialekt sie als alteingesessene Hamburgerin auswies. Sie lächelte aufmunternd. „Wissen Sie, ich reise seit mehr als zwei Jahren quer durch die Weltgeschichte. Mein Heinz-Georg, Gott hab ihn selig, hat mir auf dem Sterbebett das Versprechen abgenommen, all die Orte zu besuchen, die wir uns immer schon gemeinsam ansehen wollten. Inzwischen kann ich kaum noch zählen, in wie vielen Flugzeugen ich gesessen habe – und es ist nie auch nur das Geringste passiert.“ Freundlich tätschelte sie Lenas Hand. „Fliegen ist viel
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