Decker & Lazarus 07 - Weder Tag noch Stunde
1
Der Anruf war eine Überraschung, der Grund dafür war es noch mehr. Obwohl Rina Honey Klein geb. Hersh seit Jahren kannte – die beiden waren als Mädchen in einer Klasse gewesen hatte sie sie nie als enge Freundin betrachtet. Als Rina ihren Abschluß machte, gingen insgesamt siebenundachtzig Schüler auf die kleine orthodoxe Highschool, davon zweiundzwanzig Seniors, zwölf Jungen und zehn Mädchen. Rina war mit allen Mädchen gut ausgekommen. Aber über die Jahre hatten sich die Wege der beiden Frauen nur sporadisch gekreuzt, und diese zufälligen Zusammentreffen waren über ein paar fröhlich-freundliche Bemerkungen nicht hinausgegangen. Honey hatte sehr jung einen ultrareligiösen chassidischen Diamantenhändler geheiratet. Sie hatte vier Kinder. Sie schien glücklich zu sein.
Als Honey deshalb fragte, ob sie und ihre Kinder eine Woche bei Rina und ihrer Familie in Los Angeles verbringen könnten, fand Rina das seltsam. Ihr erster Gedanke war: Warum ich und warum hier?
Peters Ranch lag im ländlichen Abschnitt des San Fernando Valley. In dieser Gegend gab es breite Straßen und große Industriegebiete mit genug Platz für Lagerhäuser, Großhändler und Speicher. Sicher, in den neueren Wohngebieten schossen die Einfamilienhäuser und Apartmentblocks nur so aus dem Boden, aber es gab immer noch viele Ranches, die groß genug waren, um Pferde und Vieh zu halten – so wie das Gehöft, das Peters Zuhause war, und nun auch ihr Zuhause. Es war die letzte Gegend in L. A„ wo sich der Busch ungehindert ausbreiten konnte, der zum größten Teil gleich an die baumreichen Vorgebirge des Angeles Crest National Park anschloß.
Rina wußte, daß Honey engere Freundinnen hatte, die direkt in den jüdischen Gemeinden lebten – in der Gegend von Fairfax, Hancock Park oder im neueren westlichen Gebiet von Beverlywood. Honey hatte Freundinnen mit Häusern in Gehweite der orthodoxen Synagogen, koscheren Restaurants und Bäckereien. Ein tiefreligiöser Mensch wohnte nicht auf der Ranch der Deckers, sie war zu isoliert. Aber als Rina die Lage am Telefon erwähnte, hatte Honey den Einwand fortgewischt.
»Dann liegt es eben ein bißchen ab vom Schuß«, meinte Honey. »Ich denke, es wird allmählich Zeit, daß ich den Kindern auch mal die andere Seite zeige.«
»Die andere Seite?« fragte Rina.
»Du weißt schon … wie die andere Hälfte lebt.«
»Also, Honey, das ist hier aber auch nicht gerade ein Sündenpfuhl. Ich bedecke immer noch mein Haar.«
»Nein, nein!« protestierte Honey. »So habe ich das nicht gemeint. Ich will dich nicht kritisieren. Wer bin ich denn, um darüber zu richten? Mit der anderen Seite meinte ich den ganzen Spaß – Universal Studios, Disneyland, Knott’s Berry Farm, Grauman’s Chinese Theater mit den Fußabdrücken der großen Stars. Gibt’s die alte Reliquie überhaupt noch?«
»Es heißt jetzt Mann’s Chinese Theater«, informierte Rina. »Du hast doch wohl nicht vor, mit den Kindern ins Kino zu gehen?«
»Nein«, sagte Honey. »Nur das Gebäude von draußen. Und den Gehsteig mit den Stars drin. Die sind doch noch da, oder?«
»Ja.«
»Nein, wir gehen ganz bestimmt nicht ins Kino«, sagte Honey rasch. »Es wäre zu viel für sie. Wir haben hier keine Fernseher. Wir haben nicht einmal Telefone hier im Village. Na ja, das stimmt nicht ganz. Es gibt Telefone beim Gemüsehändler und beim Schlachter und in der Bäckerei. Für Notfälle. Aber in den Häusern haben wir keine.«
Rina kannte viele religiöse Leute, die keinen Fernseher besaßen und auch nicht ins Kino gingen. Sie kannte haufenweise orthodoxe Erwachsene, die vor Unterhaltungsliteratur und Zeitschriften wie Time und Newsweek zurückschreckten. Die Geschichten waren ihnen zu anrüchig, die Bilder zu lüstern. Aber kein Telefon in den Häusern, das hörte sie zum ersten Mal.
»Seit wann verbietet die Halacha, ein Telefon zu benutzen?« Rina starrte auf den Hörer. »Benutzt du nicht gerade selber eins?«
»Ich bin am Telefon der Bäckerei«, erklärte Honey. »Ich weiß, das hört sich an, als ob wieder eine Gruppe frommer sein will als die andere. Als ob eine Gruppe immer extremer versucht, die Außenwelt auszuschalten. Aber das will der Rebbe gar nicht.«
Der Rebbe, dachte Rina stirnrunzelnd. Welcher Rebbe? Die meisten Leute glaubten, die Chassidim wären eine einheitliche Gruppierung. In Wirklichkeit gab es viele chassidische Sekten, die jede für sich die Philosophie des Baal shem tow ein wenig anders auslegten.
»Ich
Weitere Kostenlose Bücher