Wo wir uns finden
aufgehört, ihn beim Namen zu nennen. Trotzdem schläft der Hund bei ihm im Bett, einer Matratze in einem fast leeren Raum – den Blick zur Decke gerichtet, krault er ihm das verfilzte Fell und erzählt, was er vorhat, ist hier alles erledigt. Die Erzählungen dauern die ganze Nacht, im Morgengrauen fällt mein Vater für ein, zwei Stunden in traumlosen Schlaf, aus dem er nass geschwitzt erwacht. Er geht in den Wald, um Holz zu sammeln, er summt und singt alte Schlager, er dankt der Jungfrau Maria für alles. Am Abend isst er Heringsfilets in Tomatensoße aus der Dose und dazu Brot. Er sitzt an einem Campingtisch, den er im Schuppen gefunden hat, auf einem wackligen Campingstuhl; nicht einmal geschenkt wollte ihm jemand den Stuhl und den Tisch abnehmen.
Und er wartet auf Theresas Anruf und will doch nicht mit ihr sprechen. Er hat Angst davor, dass sie ihn zwingen würde, sie reinzulassen, und ihn für verrückt hielte, sähe sie, wie er jetzt lebt. Wegen ihr hat er die Vorhänge und Gardinen noch nicht verkauft, obwohl es einen Interessenten gab. Sie würde etwas dagegen unternehmen, sie würde etwas gegen ihn unternehmen, er vertraut ihr so weit. Dass er ja gar keine Ahnung hatte, wie Vatersein geht, hat er gesagt vor ein paar Wochen, als er mit Theresa über die Bürgschaft, das Haus sprach. Dass er sich aber auch kein schlechtes Vorbild habe nehmen können an einem eigenen Vater, sagte Theresa.
Wie ihn die Mütter und Väter bei meiner Einschulung ansahen, als klar war, da kommt keine Frau mehr dazu. Der Blick der Lehrerin, die vom Rektor gehört hatte von der »Sorgenfamilie«, was sie meinem Vater sagte, der viel zu wütend war, um ihr zu antworten.
Er besitzt fast nichts mehr, selbst die Lampenschirme sind verkauft. Es sind nur noch die nackten Birnen in die Fassungen geschraubt. Das Licht macht harte Schatten in den Zimmern, durch die er geht, bevor er sich auf seine Matratze legt und dem Hund zu erzählen beginnt. Noch vor Tagesanbruch steht er auf. Die Kleider, die er von Hand gewaschen hat, sind noch feucht. Er zieht sie dennoch an, er besitzt keine anderen mehr.
Als er Kaffee kocht, hat er kurz das Geräusch der vor der Tür aufklatschenden Zeitungspacken im Ohr. Drei Tage haben sie gebraucht, bis sie bemerkten, dass er die Zeitungen verbrannte, statt sie auszutragen. Sie haben ihn angezeigt wegen Diebstahls. In zwei Wochen soll er zur Vernehmung.
Bis dahin, denkt er und wirft den nächsten Brief vom Amt in den Müll.
Er friert in der feuchten Kleidung und geht schneller durch den bald taghellen Morgen. Dass er immer nett zu ihnen gewesen sei, will er sagen, warum sie sich ihn und meine Mutter ausgesucht hätten, warum sie nicht zu jemand anderem gegangen seien, warum sie ihm nicht wenigstens ein paar Jahre gegeben hätten mit einer Familie, will er sie fragen. Dass Klobbe und seine Frau vielleicht mal ein Kind hatten, das ihnen starb durch Klobbes Verschulden, stellt er sich vor, dass er Krebs gehabt hat und eine Windel tragen muss und ein Leben ohne Schmerzen nicht mehr kennt. Dass es Gerechtigkeit gibt, auch auf Erden. Der war doch aber auf dem Gymnasium, denkt mein Vater: warum ist aus dem nichts geworden? Und seit Langem denkt er wieder an mich, an den Tag, als mir in der Aula das Abiturzeugnis überreicht wurde – und er gleich in der zweiten Reihe saß auf einem der Klappstühle –, dass er nicht anders hatte können, als auch auf sich stolz zu sein, wie er ganz allein seinen Sohn zum Abitur gebracht hatte und nach dem Bund zum Studieren würde schicken können, weil er gespart hatte für all das. Einen Moment lang sieht er mich in einem Büro hoch oben über einer Stadt, eine Sekretärin bringt mir Kaffee, während ich auf Englisch telefoniere.
Vor dem heruntergekommenen Hof an der Ortseinfahrt in Rottensol steht der Mann, den mein Vater auf dem Friedhof getroffen hat. Der Mann nickt. Mein Vater geht weiter, sieht auf dem erhöhten Friedhofsfeld eine Frau knien vor einem Grab, die Hand und den Unterarm gräbt sie in die Erde, als wolle sie hineinkriechen oder jemanden herausziehen. Sie bekreuzigt sich. Arm und Unterarm sind braun vom Dreck. Der rote Nissan steht nicht vor dem Haus, dass er umsonst gekommen sei, denkt er und drückt den Klingelknopf.
Klobbe und er sehen einander lange in die Augen, bevor mein Vater sagt: Zwei Häuser weiter hat mein Kollege gewohnt.
Klobbe fasst sich an die Spitzen seiner Haare, die ihm in Fransen vom Kopf hängen, seine Handgelenke wirken seltsam
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