Wolf Shadow Bd. 5 - Tödliche Versprechen
Gelegenheit haben würde zu erfahren.
Die Augen der anderen Lily weiteten sich, und Lily sah in ihnen ihr eigenes Begreifen – und dann eine Gewissheit, die die andere erschrocken zu leugnen versuchte. »Es muss eine andere Möglichkeit geben.«
»Komisch.« Sie hob die Mundwinkel, aber ihre Augen brannten. »Das habe ich auch gesagt.« Sie riss die Kette mit dem Anhänger von ihrem Hals – das Zeichen ihrer Verbundenheit mit Rule. »Aber es gibt keine. Du bist das Tor.«
Langsam streckte ihr anderes Ich die Hand aus.
Lily legte das toltoi hinein. »Sag ihm …« Gefühle wallten in ihr hoch, zu stürmisch, zu heftig, um sie zu verstehen. Sie senkte den Blick, blinzelte schnell und streichelte Rules Kopf. Es war ihr gleichgültig, dass ihre Stimme zitterte. »Sag ihm, wie froh ich war, dass es ihn gibt. Wie unglaublich froh.«
Die Hand der anderen Lily schloss sich um die Halskette. Sie nickte mit unbewegtem Gesicht.
Lily stemmte sich hoch. Sie zog an dem Ausschnitt ihres Sarongs, und er öffnete sich. »Verbinde ihn hiermit. Er blutet so stark.« Sie warf den Stoff Lily zu – und lief los. Nackt, barfuß und so schnell sie konnte.
Ganz in der Nähe waren die anderen. Rules Freunde – ein Zauberer, ein Gnom, eine Frau, die er einmal geliebt hatte. Und Dämonen waren auch da, Dämonen, die sie bekämpft hatten. Noch nicht viele, aber die anderen näherten sich bereits. Hunderte, vielleicht Tausende. Und dann war da noch eine kleine, unbedeutende Dämonin, die so etwas wie eine Freundin war. Eine kleine, orangefarbene Dämonin mit Namen Gan, die nicht kämpfte wie die anderen und deshalb sah, wie Lily auf die Klippen zulief. Und verstand.
»Nein!«, schrie Gan und rannte ihr nach. »Nein, Lily Yu! Lily Yu, ich mag dich doch! Wirklich, das ist wahr! Tu es nicht.«
Sie hatte den Rand der Klippen erreicht. Und sprang.
Und als die Luft an ihr vorbeirauschte, schwer vom Duft des Meeres, und ihr von Angst und Tod sang, flüsterte der Drache, der sich Sam nannte, ihr ins Ohr: Erinnere dich .
Durch das Pfeifen des Windes drangen die ersten Takte von Beethovens fünfter Symphonie und retteten Lily gerade noch rechtzeitig vor dem Aufprall. Sie schlug die Augen auf und blickte in die Dunkelheit. Ihr Herz hämmerte in Todesangst. Automatisch streckte sie die Hand nach ihrem Handy auf dem Nachttisch aus. Und traf auf eine Wand.
Dieser unerwartete Zusammenstoß mit der Realität ließ sie zu sich kommen, obgleich sie noch einen Moment brauchte, um zu verstehen, warum ihr Nachttisch nicht dort stand, wo er stehen müsste. Nein, warum sie nicht dort war, wo sie sein müsste.
In der letzten Zeit hatte Lily in zu vielen Betten an zu vielen Orten geschlafen. Zuhause war sie in San Diego, aber die letzten Monate hatte sie in Washington D.C. verbracht, um eine Spezialausbildung in Quantico zu absolvieren … unter anderem. Jetzt waren sie und Rule wieder zurück in San Diego und wohnten zusammen in seiner Wohnung. Doch dies hier war nicht Rules Wohnung.
Sie befand sich in Halo, North Carolina, im Haus von Tobys Großmutter, Louise Asteglio. Toby, Rules Sohn, lebte bei ihr. Es war drei Uhr zweiundvierzig morgens, und Beethovens Fünfte war Rules Klingelton. Sie arbeitete sich durch die zerknüllten Laken und griff nach ihrem Handy, das auf der Kommode lag. »Was ist passiert?«
Rules Stimme war fest, aber zornig. »Ich habe Leichen gefunden. Drei. Menschen. Sie liegen übereinandergeschichtet in einem niedrigen Grab. Der Erwachsene liegt oben.«
»Mist. Mist. Der Erwachsene? Dann … bist du sicher? Dumme Frage«, korrigierte sie sich selbst und balancierte das Telefon von einer Hand in die andere, um sich das weite, lange T-Shirt auszuziehen, in dem sie schlief. »Ich finde es nur immer besonders schlimm, wenn es Kinder sind, das ist alles.« Sie schwieg. Der Koffer. Wo war ihr … Oh ja, im Schrank. Sie waren so spät angekommen, dass sie ihn nicht einmal mehr ausgepackt, sondern einfach in den Schrank gestellt hatte.
Lily riss die Schranktür auf und zerrte den Koffer heraus. »Sie liegen im Wald, sagst du?«
»Ungefähr einen Kilometer östlich vom Highway 159, im Norden der Stadt. Ich warte auf dich am Highway.«
»Ich finde dich schon.« Das wäre der einfache Teil. So, wie eine Kompassnadel wusste, wo Norden war, wusste Lily, wo Rule sich gerade aufhielt. In dieser Hinsicht war das Band der Gefährten sehr praktisch.
Die Auserwählte, so wurde sie von den Lupi genannt. Und von Rule, wenn auch nicht sehr oft.
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