Poirot Rechnet ab
Die Augen der Gottheit
I ch stand am Fenster von Poirots Zimmer und sah gelangweilt auf die Straße hinunter.
»Komisch«, murmelte ich plötzlich.
»Was ist los, mon ami?«, fragte Poirot sanft aus den Tiefen seines bequemen Sessels.
»Poirot, wie beurteilen Sie folgende Situation? Hier unten auf der Straße kommt eine junge Dame, erstklassig angezogen – eleganter Hut, wertvoller Pelzmantel –, sie kommt langsam die Straße entlang und schaut suchend an den Häusern hoch. Sie scheint nicht zu merken, dass ihr drei Männer und eine Frau in mittleren Jahren folgen. Eben kommt noch ein Botenjunge dazu, der seine Rede mit lebhaften Gesten unterstreicht und auf das Mädchen deutet. Was hat das zu bedeuten? Ist das Mädchen eine Hochstaplerin und wird von Detektiven verfolgt, die sie verhaften wollen? Oder sind die Verfolger Gangster, die einen Überfall auf ein unschuldiges Opfer vorhaben? Was halten Sie davon, großer Meisterdetektiv?«
»Der große Meisterdetektiv, mon ami, wählt wie immer den einfachsten Weg, er schaut sich die Geschichte mal an.« Mein Freund trat zu mir ans Fenster.
Er sah auf die Straße hinunter und fing amüsiert zu kichern an.
»Wie immer, mon ami, haben Sie die Sache mal wieder durch Ihre romantische Brille betrachtet. Die Dame ist Miss Mary Marvell, der bekannte Filmstar. Sie wird von Verehrern verfolgt, die sie erkannt haben. Nebenbei bemerkt, lieber Hastings, hat sie das längst beobachtet, und es ist ihr gar nicht unangenehm.«
Ich lachte.
»Dann ist also alles geklärt. Aber das ist nicht Ihrem Scharfsinn zu verdanken, Poirot! Sie haben die Dame erkannt und daraus einfach Ihre Schlüsse gezogen.«
»Ja…? Und wie oft haben Sie Mary Marvell auf der Leinwand gesehen, mon cher?«
Ich dachte nach. »Ungefähr ein dutzendmal.«
»Und ich – einmal! Und doch erkenne ich sie – und Sie nicht!«
»Sie sieht so anders aus«, erwiderte ich leise.
»Aha! Sacré!«, rief Poirot. »Erwarten Sie vielleicht, dass sie in Londons Straßen mit einem Cowboyhut oder barfuß als irische Freiheitskämpferin herumläuft? Sie sehen immer nur das Unwesentliche. Erinnern Sie sich mal an den Fall der Tänzerin Valerie Saintclair.«
Unwillig zuckte ich mit den Schultern.
»Aber beruhigen Sie sich, mon ami«, sagte er besänftigend, »es kann ja nicht jeder ein Hercule Poirot sein. Ich weiß das wohl.«
»Ich habe noch nie einen Menschen kennen gelernt, der so eingebildet ist!«, rief ich halb lachend, halb ärgerlich.
»Was soll’s. Wenn man einmalig ist, dann weiß man es auch. Andere Leute teilen meine Meinung – sogar, wenn ich mich nicht sehr täusche, Miss Mary Marvell.«
»Wieso?«
»Sie kommt zweifellos zu mir.«
»Woher wissen Sie das?«
»Sehr einfach. Diese Straße hier ist nicht die allervornehmste. Hier wohnt nirgends ein Modearzt oder Zahnarzt, keine Modistin, und eine exklusive Modeschau gibt es erst recht nicht – aber es gibt einen berühmten Detektiv. Ja! Mein Freund, Sie dürfen es glauben, ich komme in Mode. Man sagt: ›Wie… Sie haben Ihr kleines goldenes Zigarettenetui verloren? Oh, dann müssen Sie zu dem kleinen Belgier gehen. Der ist wundervoll! Jeder geht dahin.‹ Und sie kommen alle! In Scharen, mon ami! Mit den idiotischsten Anliegen.«
Es läutete. »Was habe ich Ihnen gesagt? Das ist Miss Marvell.«
Wie üblich hatte Poirot Recht. Nach ein paar Sekunden wurde der amerikanische Filmstar hereingeführt.
Mary Marvell war ohne Zweifel eine der populärsten Schauspielerinnen der Leinwand. Sie war erst vor Kurzem in Begleitung ihres Gatten Gregory B. Rolf – ebenfalls Schauspieler – in England eingetroffen. Sie hatten ungefähr vor einem Jahr in Amerika geheiratet, und es war ihr erster gemeinsamer Besuch in England. Man hatte ihnen einen großartigen Empfang bereitet, hatte alles bewundert, was Miss Marvell tat, ihre herrlichen Kleider, ihre Pelze, ihre Juwelen – vor allem einen kostbaren Stein, einen großen Diamanten, den man den Western Star nannte, eine Anspielung auf seine Besitzerin. Viel Wahres und Unwahres wurde über diesen berühmten Stein geschrieben, der angeblich für die enorme Summe von fünfzigtausend Pfund versichert war.
Diese Details fielen mir blitzartig ein, als ich mit Poirot unsere blonde Klientin begrüßte.
Miss Marvell war klein und zierlich, sehr blond und mädchenhaft, mit großen, unschuldigen, blauen Kinderaugen.
Poirot bot ihr Platz an, und sie begann sofort zu sprechen.
»Sie werden mich vielleicht für töricht
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