Wolfstraeume Roman
aber kaum zu passen schien. Mit dem nicht ganz sauberen T-Shirt, das an seinem drahtigen Oberkörper klebte, sah er fast wie ein Obdachloser aus. Mir fielen seine hellbraunen, beinah gelben Augen auf, die den U-Bahn-Wagen unruhig im Visier behielten, ohne jedoch einen der anderen Fahrgäste direkt anzusehen. Ich hätte gern gewusst, wo er wohl den kleinen grauen Vogel gefunden hatte, wagte aber nicht, ihn anzusprechen. Viele Leute begingen den Fehler anzunehmen, dass sie einen Jungvogel retten, obwohl sie die frisch geschlüpfte Eule in Wirklichkeit aus ihrem Nest stehlen. Meine Freundin Lilliana war in der Lage, dieses Missverständnis einem jeden so plausibel zu erklären, dass die meisten die Stirn runzelten und
beteuerten, sie hätten ja keine Ahnung gehabt. Wenn ich hingegen den Mund aufmachte, liefen die Leute häufig rot an und fingen an, sich empört zu rechtfertigen.
Die kleine Eule schmiegte sich enger an den Hals des Mannes. Er fasste nach ihr und streichelte sie. Eine blonde Geschäftsfrau rückte mit pikierter Miene von ihm ab, was ihm keineswegs entging.
Für einen Moment trafen sich unsere Blicke. Er zeigte die Andeutung eines Lächelns, als amüsiere ihn dieses Verhalten. Ich wandte mich ab, denn ich billigte es nicht, wenn man wilde Tiere als cooles Accessoire mit sich herumtrug. Solche Kreaturen sind nämlich meist wesentlich zerbrechlicher, als man annimmt.
Das war mir aus dem tiermedizinischen Institut bekannt, wo wir auch immer wieder Raubvögel eingeliefert bekamen. Wir waren die einzige Klinik, die sich in der New Yorker Gegend um Exoten kümmerte, so dass man normalerweise zu uns kam, wenn eine Anakonda den Appetit verlor oder sich ein Papagei den Fuß brach. Wir waren auch der einzige Anlaufpunkt, wenn eine Katze eine Dialyse brauchte oder sich ein Hund einer Chemotherapie unterziehen musste.
Aber ich nahm nicht an, dass dieser Mann da vorhatte, seinen kleinen Freund in eine Tierklinik zu bringen. Ich fragte mich gerade, ob ich es der Eule schuldig war, mich einzumischen, als die U-Bahn quietschend zum Stehen kam und sich die Türen öffneten. In die Fahrgäste kam Bewegung. Ich merkte, dass die Person unmittelbar neben mir ausgestiegen war, so dass ich nun mehr Platz zum Atmen hatte. Automatisch hob ich die Hand, um den Riemen meiner Handtasche zurechtzurücken – nur um feststellen
zu müssen, dass sich die Handtasche nicht mehr an ihrem Platz befand.
Für einen Augenblick war ich verwirrt. Hatte ich sie aus Versehen zu Hause gelassen? War sie heruntergefallen, ohne dass ich es bemerkt hatte? Doch dann dämmerte es mir: Die Tasche musste mir gestohlen worden sein! Ich murmelte fassungslos etwas vor mich hin, als die U-Bahn ein Zischen von sich gab und sich wieder in Bewegung setzte.
Hastig blickte ich mich um. Aber natürlich war der Dieb schon lange ausgestiegen. Die Leute um mich herum sahen mich mitleidig, alarmiert oder auch völlig desinteressiert an. Wieder traf sich mein Blick mit dem des Eulenmannes. Er zuckte die Achseln, als wollte er mir bedeuten, dass er es jedenfalls nicht gewesen war, der meine Tasche hatte mitgehen lassen.
Eine dicke Frau mit gewaltigem Busen klopfte mir beruhigend auf die Schulter. Einige andere Frauen und auch Männer meldeten sich zu Wort. »Was ist passiert?«
»Man hat ihr die Tasche geklaut.«
»Haben Sie denn nichts bemerkt?«
Ich schüttelte den Kopf. »Nein, nichts.« In mir stieg Panik auf, als die anderen Fahrgäste auch anfingen nachzusehen, ob ihre eigenen Handtaschen, Aktenkoffer und Portemonnaies noch an ihrem Platz waren. Keinem fehlte jedoch etwas. Nur ich saß plötzlich ohne Geld, Kreditkarten, Handy und Schlüssel da. Ich versuchte mich daran zu erinnern, wie viel Bargeld ich mitgenommen hatte. Verdammt. Ich war erst gestern nach der Arbeit auf der Bank gewesen.
»Die machen das mit einem Messer«, meinte ein dünner Junge im Teenageralter, dessen übergroße Jeans unter seinen
Hüften hing und ein Paar weiße Boxershorts enthüllte. »Die schneiden einfach den Riemen durch und peng – Notfall-OPauf Ihrem Bankkonto.« Er blickte mich spöttisch besorgt an und schien vor allem von seinem eigenen Wissen beeindruckt zu sein. Für einen Augenblick verdächtigte ich sogar ihn des Diebstahls. Als ich mich umdrehte, bemerkte ich, wie mich der Eulenmann aus halbgeschlossenen Augen musterte und dabei höhnisch lächelte. Er ahnte, was ich gedacht hatte, und ich konnte deutlich erkennen, was er jetzt von mir hielt. Rassistin, hallte es
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