Zerrissen
flüstere ich.
Der Kerl steht immer noch da, hat die Hand vor den Mund gelegt und tut so, als täte ihm das alles Leid. Als wäre er wirklich geschockt über meine Reaktion. Macht ihn das geil?
„Er war’s …“
Ich sehe sie leidend an, meine Stimme so weit gesenkt, wie nur möglich.
Ihre Haltung ist alarmierend und sie sieht ihren Kollegen an, mit einem fragenden Blick. Ich kann ihre stumme Übereinkunft nicht nachvollziehen, ich sehe nur noch, wie ihr Kollege zur Seite geht und ein Handy hervor zieht, um … ja, was tut er?
„Mein Kollege ruft die Polizei.“
Dankbar nicke ich ihr zu. Ich bin mit einem Mal so müde, dass ich am liebsten die Augen schließen würde und wohl direkt auf der Stelle einschlafen könnte. Wenn da nicht die Anwesenheit dieses Mannes wäre.
Ich kann die Stimmen nicht mehr ausblenden, aber auch nicht filtrieren. Alles dringt zu mir durch: die Stimme meines Peinigers, der fragt, ob alles in Ordnung mit mir sei; die Sanitäterin, die Ruhe bewahrt und gleichzeitig nicht verrät, warum der andere Sanitäter telefoniert; und ihr Kollege, wie er mit der Polizei redet und kurz schildert, wie die Lage hier vor Ort ist.
Ich weiß nur, dass ich das richtige getan habe. Ich darf nicht schweigen. Nicht da liegen und ihn verschwinden lassen. Es ist gut, dass er nichts ahnt. Scheint sich seiner Sache ziemlich sicher zu sein!
Die Zeit vergeht rasend schnell. Bin ich zwischendurch eingenickt? Ich weiß es nicht. Ich höre irgendwann Sirenen, kann durch die geschlossenen Augenlider das regelmäßig aufleuchtende Blau erkennen und kurz darauf nähern sich Schritte. Sie sind zu viert. Polizisten in Uniform, die sich aufteilen. Eine von den Frauen kommt zu mir.
„Wie geht es Ihnen?“, fragt sie und wirft mir einen prüfenden Blick zu.
Mein Anblick scheint wohl Bände zu sprechen.
„Er hat mich … angefasst. Mir die Kleider zerfetzt. Mich … ich kann nicht.“, flüstere ich heiser und verkrampfe mich in meiner Haltung. Ich vergrabe meine Fingernägel in meinem Knie und schüttele den Kopf.
„Schon gut.“, sagt sie nun und hebt beschwichtigend die Hände.
„Zuerst werden Sie ins Krankenhaus gebracht. Und der Mann hier war der Täter, sagen Sie?“
Ich nicke. Nicke immer wieder, energischer und fange den Blick des Mannes auf. Ich werde nie mehr sein Gesicht vergessen. Auf ewig hat es sich mir eingebrannt, wird selbst dann abrufbar sein, wenn ich es gar nicht mehr sehen möchte.
„Wie heißen Sie? Haben Sie Angehörige, die wir informieren sollten?“
„Ich weiß es nicht.“, antworte ich wahrheitsgemäß und werde dann fragend angesehen.
„Was wissen Sie nicht?“
Aber ich merke, dass sie langsam erkennt, worauf ich hinaus will.
„Ich weiß meinen Namen nicht … nicht mehr …“
Ein Nicken und sie steht auf. Es braucht nicht lange, bis ich völlig den Sanitätern überlassen werde, die zuerst versuchen mir auf die Beine zu helfen. Da ich aber so stark zittere vor Kälte, Nässe und der immer noch in den Gliedern steckenden Angst, legen sie mich auf die Trage und bringen mich so zum Krankenwagen.
Dabei höre ich die aufgebrachte Stimme des Mannes. Ich bemerke im Augenwinkel, wie er heftig mit den Armen gestikuliert und in meine Richtung zeigt.
„Ich soll WAS getan haben?“, fragt er entgeistert.
„Wo kommen wir denn da hin? Warum sollte ich das getan haben, ich hab doch nur …“
Einerseits bin ich froh, dass die Tür des Krankenwagens das Gespräch abschottet und ich nicht weiter zu hören muss, gleichzeitig würde ich gerne wissen, mit welchen Tricks er sich weiter versucht heraus zu reden. Ich werde es wohl erst einmal nicht erfahren.
Den Weg ins Krankenhaus starre ich nur an die Decke. Die Sanitäterin versucht mich abzulenken, scheint bemüht, mich aus meinen finsteren Gedanken zu reißen, doch sobald sie merkt, dass ich überhaupt keine Reaktion zeige, lässt sie es bleiben und kommuniziert zwischendurch mit dem Fahrer. Sie bestätigt immer wieder, dass mein Zustand stabil sei. Stabil? Ich möchte auflachen, aber es bleibt mir im Hals stecken. Wenn man meinen Zustand wirklich als stabil bezeichnet, dann weiß ich auch nicht. Mir wird natürlich im gleichen Gedankengang bewusst, dass sie meine körperliche Stabilität meint, aber auch von dieser bin ich nicht überzeugt. Ja, ich falle nicht in Ohnmacht und tatsächlich halte ich meine Augen seitdem ich im Krankenwagen liege fast stetig offen, während ich zuvor die traute Dunkelheit genossen
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