Zersplittert: Dystopie-Trilogie Band 2 (German Edition)
Magen vor Angst und vor Sehnsucht. Ich möchte um jeden Preis bei ihm sein, koste es, was es wolle.
Er wird mich überall finden.
Es klopft an der Tür. »Kyla, bist du wach? Du kommst noch zu spät zur Schule.«
»Ihr Wagen, die Damen«, sagt Jazz und verbeugt sich. Er stemmt einen Fuß gegen das Auto, um die Tür aufzureißen. Ich klettere auf den Rücksitz, Amy steigt vorn ein. Und obwohl es sich wie ein Ritual anfühlt, das sich jeden Morgen wiederholt, ist es mir fremd . Eine Monotonie, die mir zu schaffen macht.
Unterwegs schaue ich aus dem Fenster, Bauernhöfe und Stoppelfelder ziehen an uns vorüber. Kühe und Schafe stieren friedlich kauend vor sich hin. Wie unterscheiden wir uns eigentlich von ihnen? Auch wir werden wie eine Viehherde jeden Morgen zur Schule gekarrt und bewegen uns auf vorgeschriebenen Bahnen, ohne je das Warum zu hinterfragen.
»Kyla? Erde an Kyla.«
Amy hat sich in ihrem Sitz herumgedreht.
»Sorry. Hast du was gesagt?«
»Ich hab gefragt, ob es dir was ausmacht, wenn ich nach der Schule arbeiten gehe? Vier Tage die Woche, von Montag bis Donnerstag. Mum ist sich nicht sicher, ob es gut ist, wenn du so viel allein bist. Sie wollte noch mit dir darüber reden.«
»Kein Problem, wirklich. Es macht mir nichts aus. Wann fängst du an?«
»Morgen«, sagt sie mit schuldbewusstem Blick.
»Du hast doch ohnehin schon zugesagt, oder?«, frage ich.
»Erwischt!«, meint Jazz. »Aber was ist mit mir? Wann hast du überhaupt Zeit für mich?« Die restliche Fahrt über tun sie so, als würden sie sich deshalb streiten.
Der Vormittag rauscht einfach so an mir vorbei. Ich scanne meinen Schülerausweis vor jeder Stunde ein und tue im Unterricht so, als würde ich zuhören. Versuche auszusehen, als wäre ich aufmerksam und lernwillig, damit niemand Grund hat, mich genauer ins Visier zu nehmen. Nach der Stunde scanne ich meine Karte dann wieder. Ich esse allein, und wie üblich werde ich von den anderen Schülern ignoriert, die sich von den Slatern fernhalten. Ben mochten die meisten, aber ich bin nicht besonders beliebt. Vor allem jetzt nicht mehr, seit er verschwunden ist.
Ben, wo bist du? Sein Lächeln, das warme, sichere Gefühl seiner Hand in meiner, das Leuchten in seinen Augen – die Erinnerung schmerzt, als würde mir jemand ein Messer in den Bauch rammen. Der Schmerz ist so real, dass ich die Arme um mich schlingen muss, um nicht laut loszuschreien.
Insgeheim weiß ich aber, dass ich das nicht mehr viel länger aushalte. Gefühle lassen sich nicht für immer verschließen.
Aber nicht hier. Nicht jetzt.
Dann ist es endlich Zeit für den Biounterricht. Mein Unbehagen wächst auf dem Weg zum Labor. Was, wenn ich durchgedreht bin und er gar nicht Nico ist? Gibt es ihn überhaupt?
Was, wenn er es ist? Was dann?
Ich lese meine Karte an der Tür ein, gehe nach hinten und setze mich, bevor ich es wage aufzublicken. Vielleicht hätten mir die Beine versagt, wenn ich ihn, der mir ständig im Kopf herumspukt, nun in natura vor mir sehe.
Und da ist er: Mr Hatten, unser Biolehrer. Ich starre ihn an, aber das ist nichts Außergewöhnliches, denn das tun alle Mädchen. Er ist nicht nur zu jung und zu gut aussehend für einen Lehrer. Er hat etwas Besonderes an sich. Und das hängt nicht nur mit den schönen Augen, dem welligen, blond gesträhnten Haar, das für einen Lehrer ziemlich lang ist, oder seiner großen, durchtrainierten Gestalt zusammen. Es liegt vielmehr an seinem Auftreten: ruhig, aber immer alarmbereit wie ein Gepard, der auf den Sprung wartet. Alles an ihm verströmt Gefahr.
Nico. Es ist Nico, keine Frage, kein Zweifel. Seine unvergesslich hellblauen Augen mit den dunklen Rändern schweifen durch den Raum. Unsere Blicke begegnen sich. Wir sehen uns an und seine Augen bekommen einen warmen Ausdruck. Wir erkennen uns wieder, und es ist fast wie ein körperlicher Schock, der alles real macht. Als er den Blick schließlich löst, fühlt es sich an, als würde er mich aus einer Umarmung entlassen.
Das bilde ich mir nicht ein. Genau in diesem Moment steht er, Nico , auf der anderen Seite des Raums. Bislang habe ich es nur geahnt, doch jetzt, mit meinem neu erwachten Bewusstsein, bin ich mir hundertprozentig sicher.
Dann fällt mir ein, dass ihn zwar die anderen Schülerinnen anstarren, ich das aber normalerweise nicht tue. Zumindest nicht so auffällig.
Also versuche ich, es während des Unterrichts nicht zu tun, aber vergeblich. Seine Augen suchen immer wieder meine. Lese ich darin
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