Zersplittert: Dystopie-Trilogie Band 2 (German Edition)
weg . Trotz der wirren Erinnerungsfetzen funktioniert mein Gehirn jetzt besser. Er ist weg und kommt nicht wieder. Selbst wenn er das Abschneiden des Levos überstanden hat, gibt es keine Hoffnung, dass er die Lorder überlebt hat. Mit meinen Erinnerungen kehrt auch diese Erkenntnis zurück. Wen die Lorder einmal mitgenommen haben, kehrt nie mehr zurück.
Diese Einsicht tut so weh, dass ich sie wegschieben und mich davor verstecken will. Aber die Erinnerung an Ben will ich mir erhalten. Der Schmerz ist alles, was mir von ihm bleibt.
Seine Mutter tritt Augenblicke später aus der Haustür. Sie setzt sich ins Auto, und ehe sie losfährt, bleibt sie noch ein paar Minuten über das Lenkrad gebeugt sitzen. Als sie den Motor anlässt, fängt es leicht an zu regnen.
Sobald sie außer Sichtweite ist, mache ich das Fenster weit auf, beuge mich nach draußen und strecke die Arme in die Nacht. Kalte Tropfen fallen auf meine Haut und heiße Tränen laufen mir über das Gesicht.
Regen . Er erinnert mich an etwas Wichtiges, doch gleich darauf ist der Gedanke wieder verschwunden.
Ich beuge mich über meine Skizze, zeichne wie wild Blätter und Äste und achte darauf, dass ich die rechte Hand benutze. Der neue Kunstlehrer, den die Schule jetzt endlich eingestellt hat, sieht weder gefährlich noch inspirierend aus. Er wirkt völlig uninteressant und kann Gianelli, dem Mann, den er ersetzen soll, überhaupt nicht das Wasser reichen. Aber solange ich irgendetwas zeichnen kann – selbst wenn es wie heute nur Bäume sind –, ist es mir egal, wie öde der Lehrer ist.
Er geht durch den Raum, macht ab und zu nichtssagende Kommentare, bis er bei mir stehen bleibt. »Hm … nun, das ist interessant«, sagt er und geht weiter.
Ich schaue auf das Papier vor mir. Ich habe einen Wald voller wütender Bäume gezeichnet, in dessen Schatten eine dunkle Gestalt mit leuchtenden Augen lauert.
Was würde Gianelli wohl davon halten? Er würde sagen: »Mach langsamer und arbeite sorgfältiger«, und er hätte recht damit. Aber die Wildheit der Zeichnung würde ihm trotzdem gefallen.
Ich fange von vorn an, das Kratzen des Kohlestifts auf dem Papier beruhigt mich. Die Bäume wirken freundlicher und diesmal blickt Gianelli selbst aus dem Schatten zu mir herauf. Niemand, außer mir, würde ihn erkennen. Denn ich weiß, was mit Leuten wie Gianelli passiert, die Vermisste zeichnen. Stattdessen male ich ihn, wie ich ihn mir als jungen Mann vorstelle. Nicht als den alten Mann, den die Lorder mitgenommen haben.
Eine Stunde später scanne ich meinen Schülerausweis an der Tür zur Stillarbeitsstunde ein und betrete das Klassenzimmer. Ich gehe nach hinten …
»Kyla?«
Ich bleibe stehen. Diese Stimme – hier? Ich drehe mich um. Nico lehnt am Lehrerpult vorn im Raum und grinst verschmitzt. »Hoffentlich geht’s dir heute wieder besser.«
»Mir geht’s gut, Sir«, sage ich und schaffe es, mich umzudrehen und zu meinem Platz zu gehen, ohne umzukippen.
Dass er den gelangweilten Aufsichtslehrer geben muss, der dafür sorgt, dass wir konzentriert lernen, ist eigentlich keine große Überraschung. Die Lehrerschaft wechselt die ganze Zeit durch, und es war klar, dass Nico früher oder später dran sein würde. Trotzdem hatte ich nicht schon so bald wieder mit ihm gerechnet. Ich muss die Hände einen Augenblick lang im Schoß zusammenpressen, damit sie weniger zittern.
Dann schlage ich meine Mathehausaufgabe auf, weil ich dabei ohne große Mühe so tun kann, als ob ich beschäftigt wäre. Den Blick aufs Heft gerichtet, halte ich den Stift in der rechten Hand. Nico hat einen Rotstift und ein Blatt Papier vor sich auf dem Tisch liegen. Trotzdem sehe ich, dass auch er nur so tut, als würde er arbeiten, dabei aber die ganze Zeit in meine Richtung schaut.
Das weiß ich natürlich nur, weil ich ihn beobachte. Seufzend mache ich mich an eine Gleichung mit einer Unbekannten.
Die Zahlen verschwimmen jedoch vor meinen Augen. Gedankenversunken kritzle ich am Rand der Seite herum, zeichne Weinranken und Blätter um das Datum, das ich wie immer oben auf die Seite geschrieben habe. Plötzlich springt mir das Datum direkt ins Auge. 3.11. Heute ist der 3. November.
Mit einem beinah hörbaren Klick geht mir ein Licht auf.
Heute ist mein Geburtstag. Ich wurde heute vor 17 Jahren geboren, aber außer mir weiß das niemand.
Eine Gänsehaut breitet sich über meinen Armen aus. Ich kenne mein richtiges Geburtsdatum und nicht nur das, das mir im Krankenhaus zugewiesen
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