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Zigeuner

Zigeuner

Titel: Zigeuner Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bauerdick Rolf
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geblieben. Mit den standesbewussten, traditionstreuen und wohlhabenden Kalderasch, die Romani sprachen und ein paar Dörfer weiter in Brateiu Kochtöpfe und Kupferkannen fabrizierten, hatten die Roma aus Copşa Mică nichts gemein. Sie produzierten nichts. Der vollbärtige Victor besaß weder Werkzeug noch Material noch gar eine Werkstatt. Dennoch behauptete er, wie schon sein Vater und wie schon dessen Vater wolle er wieder als Schmied und Blechschneider sein Brot verdienen, würden die hohen Preise für Kupfer und Zink wieder sinken.
    Auch Petru Carolea glaubte, ein Kesselschmied zu sein. In wirre Selbstgespräche versunken, schien er mir von einer beklemmenden und traurig stimmenden Verrücktheit. Wenn er eine Fotokamera sah, schnappte er sich einen Hammer und drosch auf einen kaputten und vom Rost zerfressen Blechtopf ein, der irgendwo herumlag. Zuerst glaubte ich, sein Tun wäre ohne Sinn und Verstand, bis mir ein Nachbar steckte, amerikanische Fernsehleute hätten Petru ein Bündel Lei gegeben, um vor laufender Kamera zu zeigen, wie die Kalderasch-Zigeuner einst Pötte aus Kupfer schmiedeten.
    Petru Carolea hatte acht Kinder. Ein-, zweimal am Tag reichte ihre Mutter ihnen ein paar Scheiben weißes Brot und angebrannte Maispampe, die sie gierig aus einem rostigen Blechtopf kratzten, von dem die Emaille abgeplatzt war. Nachts krochen sie mit knurrendem Magen unter schmierige Laken, morgens wachten sie hungrig auf, mit aufgeblähten Bäuchen und so schmutzig, wie sie eingeschlafen waren. An warmen Sommertagen sprangen die Kinder in die Târnava. Sie badeten in der trüben Brühe, spielten, lachten und bewarfen sich mit Schlamm, als sei der Schmutz kein Feind, sondern ein natürliches Element einer Normalität, die nur dem pervertiert dünkte, der um eine Alternative wusste. So wie die Sachsen. Für sie stand die Tür nach Deutschland offen, und schlussendlich nutzte auch Hans Schörrwerth die Möglichkeit der Wahl. Auch er hatte, wie die Siebenbürger zu sagen pflegten, bei den Behörden »eingereicht« und wartete auf seine Ausreisepapiere. Er meinte: »Hier bleiben nur die vom letzten Kapitel.«
    Ob die Menschen im Schatten der schwarzen Fabrik sich nun Kalderasch nannten, Roma oder Tzigani, blieb sich letztlich gleich. Sie hatten nichts mehr, auf das sie eine selbstbewusste Identität hätten gründen können. Sie ließen weder den Wunsch, geschweige denn den Willen erkennen, einen Weg aus der Misere zu suchen. Anders als die Sachsen aus Siebenbürgen und die Schwaben aus dem Banat, die alle unter dem Heimatverlust litten. Ohne die Perspektive, den Kreislauf aus Demütigung und Entwürdigung aus eigener Kraft unterbrechen zu können, hatten sich die Zigeuner aus Copşa Mică mit ihrer Rolle als Ausgestoßene abgefunden. Wie so oft in der Geschichte ihrer Ethnie.
    Nur selten waren sie willkommen, seit die Roma vor mehr als tausend Jahren in Migrationswellen aus dem indischen Punjab aufbrachen und über den Iran, die Türkei und den Balkan, manche über Afrika wandernd, zu Beginn des 15. Jahrhunderts Mittel- und Westeuropa erreichten. Ob sie aus ihrer angestammten Heimat von arabischen Kriegsherren vertrieben oder von Eroberern verschleppt und versklavt wurden, ist nicht überliefert. Ständig unterwegs gaben die Roma ihr zum Überleben notwendiges Wissen nur mündlich weiter. Schriftliche Chroniken besaßen für das Volk »ohne Heim und ohne Grab«, wie es der ehemalige Präsident der Internationalen Romani Union Rajko Djurić nannte, keinerlei Wert. Auf rund zwölf Millionen schätzt man die Zahl der Zigeuner heute, und selbst Ethnologen tun sich schwer, das verzweigte Geflecht unterschiedlichster Stämme, Gruppen, Sippen und Familienverbände sowie die ungezählten Fremd- und Eigenbezeichnungen auch nur ansatzweise zu überblicken. Die ursprüngliche gemeinsame Sprache, das dem indoeuropäischen Sanskrit verwandte Romani, lebt zwar in diversen Dialekten fort, wird jedoch nur mehr von eher traditionstreuen Stammesgemeinschaften gepflegt, wohingegen sich das Gros der Roma zusehends an die jeweilige Landessprache assimiliert. Streng genommen suggeriert die Rede vom Volk der Roma oder vom Volk der Zigeuner eine ethnische Homogenität, die schon lange nicht mehr existiert.
    Es dauerte eine Zeit, bis ich verstand, dass in Ungarn nur die standesbewussten Vlach-Zigeuner, die sich Oláh nennen, das Romani beherrschen, während die Mehrheit der Romungros, je nach Staatszugehörigkeit ungarisch, tschechisch oder

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