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Clara

Clara

Titel: Clara Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Koller
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Kapitel 1 – Gegensätze

 
    1

 
    Ich sprang
über den Rand der Laderampe und verließ das Betriebsgelände. Niedergeschlagen
schlurfte ich den Schotterweg entlang zu meiner alten Klapperkiste und hoffte
im Stillen, dass sie anspringen möge. Der Werktag war vorbei. So, wie jeder
verfluchte Tag einmal vorbeiging. So, wie er immer enden würde. Bis in alle
Ewigkeit. Ohne Sinn, ohne Verstand, ohne jede Vernunft. Es war ein grässlicher
Tag gewesen. Daran konnte auch die kräftige Herbstsonne nichts ändern, die sich
unerbittlich über meinem Haupt ergoss. Ich schloss den Wagen auf und begab mich
auf den Heimweg. Dreißig Minuten Asphalt lagen vor mir. Dreißig Minuten
Wahnsinn. Ich drehte das Radio an und ließ den Tag gedanklich noch einmal Revue
passieren. Doch ich fand nichts, was sich zu erinnern lohnte. Nur Leere. Nur
der Drang, dem zu entfliehen.

 
    2

 
    Clara war
perfekt. Und so fühlte sie sich auch, als sie sich gemütlich in die
Kaschmirdecke schmiegte und den nahenden Abend herbeisehnte. Die Abende waren
immer großartig. Ganz zu schweigen von den Nächten. Schon bald würde sie sich
schick machen für die heutige Party. Sie liebte Partys. Den Champagner, die
tolle Musik, die Männer, die sie mit Komplimenten überschütteten. Den Luxus zu
tun, was auch immer ihr beliebte.
    Im Stillen
bedauerte sie die Kreaturen, die sich tagtäglich dem Joch der Arbeit hingaben.
In ihrer Welt spielte der Existenzkampf keine Rolle. Philip hatte ins »C3«
geladen. Nur das stand im Fokus. Ach, was für ein herrlicher Abend würde das
werden. Eisgekühlter Wodka aus der Drei-Liter-Magnumflasche, tolle DJs und jede Menge Verehrer. Was sollte sie nur anziehen?

 
    3

 
    Ich nahm an
meinem üblichen Tisch Platz und bestellte ein Glas Bier. Es war der erste
Genuss des ganzen Tages. Das Bier, das geschmeidig in meinen Körper eindrang.
Ich kam regelmäßig hierher und war so etwas wie ein Faktotum. Eine zur
Gewohnheit gewordene Randerscheinung für die hier verkehrenden Menschen. Doch
es waren nicht die Leute, die mich interessierten. Es war das Leben an und für
sich. Das Kommen und Gehen. Das stetige Treiben in einer unaufhaltsamen Welt.
Nur wenige blieben dauerhaft sitzen und gaben sich den Genüssen des
Gerstensafts voll hin. Nur wenige? Nun, wohl kaum einer außer meiner
bescheidenen Wenigkeit. Doch gerade das machte mir Spaß. Dieser endlose Fluss,
der nirgends hinführte. Ein Glas Wein hier, ein Schnaps dort. Niemand blieb
lange. Die Konventionen erlaubten es nicht. Nicht in einem Dorf wie Alt-Mürren , wo jeder jeden kannte. Wo mich jeder kannte.
Aber ich blieb hocken. Aus Freude genauso wie aus Trotz. Denn was scherte mich
die Konvention? Ich trank des Trinkens willen. Der Tag hatte genügend Opfer
verlangt. Womöglich zu viele. Ich bestellte noch ein Glas und hoffte auf
Wirkung. Doch die würde sich erst sehr viel später einstellen.

 
    4

 
    Clara zog
ihre Strümpfe mit einem lasziven Lächeln auf ihrem purpurnen Mund an.
Eigentlich war es um diese Jahreszeit noch zu warm für Strümpfe, doch sie
liebte den Reiz daran. Den Reiz, den junge Männer in ihrer Nähe verspürten,
wenn sie rein zufällig über ihre Nylons strichen und eine Vorstellung davon
bekamen, wie sich ein echter weiblicher Körper anfühlte. Sie liebte diese
Erotik, diese Unnahbarkeit und spielte sie voll aus. Nach einigen Telefonaten
mit ihren langweiligen Freundinnen hatte sie erfahren, dass auch Presse und
Fernsehen mit großer Zahl bei der Party erscheinen würden. Welch ein Traum.
Einmal das Rampenlicht wie France Marriott zu
genießen. Einem Vorbild, welchem sie schon lange nacheiferte. An diesem Abend
würde sich also eine Gelegenheit bieten, in vorderster Reihe für Aufmerksamkeit
zu sorgen. Als Clara all das verinnerlicht hatte, rief sie ihr »Mädchen«, wie
der Geldadel seine weiblichen Bediensteten auf ebenso vertrauliche wie
herablassende Weise nannte, und befahl die Herausgabe der edelsten Garderobe
und des teuersten Schmucks, den sie in ihrem jungen Leben angehäuft hatte.

 
    5

 
    Ich saß in
meinem Wohnzimmer mit einer Flasche Rotwein vor mir auf dem Tisch und starrte
ins Leere. Don Giovanni sang gerade davon, wie sehr er alle Frauen liebte. Nun,
ich hatte nur eine geliebt. Und sie war gegangen. Unwiderruflich. An einen Ort,
den niemand kannte. Meine Augen blieben trocken. Es gab nichts mehr zu
beweinen. Selbst meine eigene Verzweiflung nicht. Meine beiden Katzen
schmiegten sich noch fester an mich und spendeten

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