Zoë
ich so laut, dass sie es noch hören musste. »Das war jetzt schon die Vierte.«
Selbst wenn es ihm vielleicht nicht passte, Henry zog die Aufmerksamkeit der Leute auf sich. Er musste sich gar nicht darum bemühen. Das war mir gleich aufgefallen, als er ins Büro der Sozialarbeiterin im Krankenhaus von Farmville kam, um mich abzuholen. Irgendetwas an ihm zog die Leute an, ob sie es wollten oder nicht. Und zwar nicht nur Frauen, sondern jeden. Sogar die beiden zugedröhnten Patienten hatten die Oprah-Show im Fernsehen vergessen und Henry angeglotzt, als er hereinkam. Schlagartig war die Atmosphäre im Raum völlig verändert, alle waren irgendwie aufgeregt, so als würde gleich etwas Wichtiges, vielleicht sogar ein kleines bisschen Gefährliches passieren. Wenn er den Mund aufmachte, lauschte man seiner tiefen Stimme ganz automatisch, selbst wenn er bloß einen Kaffee bestellte oder fragte, wo er seineNichte finden könne, Ms Zoë Royster. Ms sagte er, das gefiel mir. Aber sein eindrucksvolles Auftreten in Verbindung mit seiner mürrischen Art hatte etwas von einer tickenden Zeitbombe, und mehr als einmal habe ich seit gestern überlegt, einfach wegzulaufen und mich zu verstecken.
»In People , dieser Zeitschrift, habe ich gelesen, dass gut aussehende Ärzte auf der Liste der besten Partien auf Platz 1 stehen«, sagte ich, um die Unterhaltung ein bisschen aufzulockern. Aber Henrys Miene wurde nur noch finsterer, und mir wurde klar, dass meine Bemerkung anscheinend unpassend war.
»Ich praktiziere kaum noch«, sagte er, und es hörte sich an, als würde er irgendwas Ekliges ausspucken.
»Schade. Du wärst bestimmt ein guter Arzt. Beim ersten Blick auf dich würde jede Krankheit doch sofort die Flucht ergreifen.«
»Tatsache?«
»Allein dieser Blick eben könnte Krebs heilen. Ich hab gelesen, dass die Stimmung eines Menschen darüber entscheiden kann, ob er stirbt oder überlebt.«
Er kniff die Augen zusammen, so als hätte ich ins Schwarze getroffen. »Gibt es irgendetwas, was du nicht weißt oder nicht gelesen hast?«
»Ich lese eine Menge. Aber das meiste, was in diesen Zeitschriften steht, ist Quatsch. Billigfraß fürs Gehirn. Hubble-Teleskop sichtet Elvis auf dem Mars , so was in der Art.«
»Warum liest du sie dann?«
»Ich lese sie nicht«, sagte ich, während ich mich zwischen zwei Sorten Bodylotion zu entscheiden versuchte – Jasmin oder Honig. »Ich guck mir die Überschriften an, wenn ich an der Kasse anstehe. So vergeht die Zeit schneller. Es ist witzig, und man erfährt was über die Leute.«
Er sah mich zweifelnd an. »Was zum Beispiel?«
»Na ja, was sie glücklich macht. Was ihnen Sorgen macht. Wovor sie Angst haben.«
»Was macht sie denn glücklich?«
»Wahre Liebe.«
»Was macht ihnen Sorgen?«
»Dass sie sie womöglich nie finden.«
»Und was macht ihnen Angst?«
»Dass sie sie womöglich doch finden.«
Ich griff nach der Jasmin-Lotion und warf einen Blick über die Schulter. Henry musterte mich, wie das Erwachsene oft tun, so als wäre ich cleverer, als er gedacht hatte, als wüsste ich für ein Kind zu viel. Ich dachte daran, was die Sozialarbeiterin im Krankenhaus zu ihm gesagt hatte, als sie glaubte, ich bekäme es nicht mit.
»Zoës coole Art ist so eine Art Panzer, mit dem sie sich schützt«, hatte sie gemeint, und ich war mir wie ein Gürteltier vorgekommen. »Sie musste für sich selbst sorgen, seit sie laufen konnte. Ihre Mutter hat mehr Zeit in psychiatrischen Anstalten verbracht als draußen, Zoës Vater – Ihr Halbbruder, wenn ich richtig informiert bin – hat sich gleich nach der Zeugung aus dem Staub gemacht. Im Laufe der Jahre hat Zoë unter der Obhut der verschiedenen Freunde ihrer Mutter gelebt, die sich allerdings kaum gekümmert haben und sie einfach gewähren ließen. Manchmal war sie auch ganz auf sich allein gestellt. Man muss schon sagen, dafür hat sie sich zu einem ganz außergewöhnlichen Kind entwickelt.«
Wer hätte das gedacht: Ich – außergewöhnlich.
»Was guckst du so komisch?«, fragte ich Henry. Ich war es leid, dass jeder mich anstarrte wie irgendwas unterm Mikroskop.
»Ich dachte gerade darüber nach, ob da vielleicht ein winziger Erwachsener mit einer großen Klappe in deinem fast zwölfjährigen Körper eingesperrt ist.«
»Ach ja? Willst du mir vielleicht mit deiner Arztlampe in die Ohren gucken, wenn wir zu Hause sind?«
»Kann sein.«
Er folgte mir in den Gang mit dem Tierfutter, und während ich überlegte, welches
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