Zorn - Wo kein Licht
mindestens doppelt so viel, wenn nicht das Dreifache.
Ihr Gesicht erhellte sich.
»Du gefällst mir viel besser, Kleiner.«
Ach!, wollte Zorn rufen, biss sich aber auf die Zunge.
»Hervorragend.« Schröder klatschte in die Hände, dann schüttelte er die Beine, als wolle er seine Muskeln lockern. »Jetzt aber husch, Schätzchen!«
Die Walküre gab ihm einen Stups, der Zorn umgehend zu Boden geschickt hätte. Schröder begnügte sich mit einem leichten Ausfallschritt und hakte sie unter. Kurz darauf waren sie im Gedränge verschwunden.
Czernyk sah ihnen einen Moment nach, dann wandte er sich an Zorn.
»Er hat anscheinend viele Talente.«
»Ja«, nickte Zorn. »Hoffentlich hebt er sich keinen Bruch.«
Dann stand er auf. Er musste hier weg, bevor sie zurückkamen.
*
Zorn steuerte direkt auf die Toiletten zu. Sein Plan war, kurz davor abzubiegen und dann unauffällig den Saal zu verlassen. Die erste Tanzrunde würde bald beendet sein, laut Programm sollten die Ansprache eines Gewerkschaftsvertreters und eine kurzweilige kabarettistische Showeinlage mit Bauchredner folgen. Zorn hatte genug, er wollte nach Hause, allein sein mit seinen Zigaretten und seiner Wut auf Malina.
Bereits im Treppenhaus wurde er aufgehalten.
»Auf ein Wort, Kollege.«
Wachtmeister Kusch lehnte an einer stuckverzierten Säule, in der Hand hielt er einen Teller mit Bratwürsten.
Zorn seufzte und blieb stehen. Überlegte, ob er einfach weiterlaufen sollte, er hatte einfach keine Lust auf einen weiteren Streit mit dem riesigen Wachtmeister. Aber wie ein Feigling wollte er auch nicht dastehen.
Kusch stellte den Teller beiseite, zückte ein großes Taschentuch und wischte sich umständlich die Hände ab.
»Es dauert nicht lange.«
Nun gut, dachte Zorn, schob das Kinn vor und baute sich vor Kusch auf. Soll er mir eine reinhauen, wenn er will.
»Bringen wir’s hinter uns.«
»Damit wir uns nicht falsch verstehen«, erklärte Kusch kauend, »ich halte Sie für ein riesengroßes Arschloch.« Seine Stimme dröhnte über den Treppenflur.
Zorns Kinn schob sich weiter nach vorn.
»Das ist mir bewusst.«
»Menschlich gesehen.« Kusch fuhr sich mit der Hand über das kurzgeschnittene graue Haar. »Aber ich glaube, dass Sie ein guter Polizist sind.«
Jetzt klappte Zorns Kinn nach unten.
»Wie bitte?«
»Ich habe beobachtet, was Sie letzten Sommer geleistet haben, Sie und Hauptkommissar Schröder. Der Fall mit den Kindern, es stand genug davon in den Zeitungen. Sie sollen wissen, dass ich das respektiere.«
Der verarscht mich, dachte Zorn. Anders kann es nicht sein, jeden Moment schlägt er zu.
»Das interessiert Sie wahrscheinlich nicht«, fuhr Kusch fort. »Schließlich bin ich nur Streifenpolizist und verteile Strafzettel. Trotzdem, wir arbeiten zusammen, es ist albern, hier irgendwelchen Kinderkram aufzuführen. Ich bin nicht Ihr Feind, Zorn.«
Jetzt wurde Zorn bewusst, dass es dem Wachtmeister ernst war.
»Ist das eine Entschuldigung?«, fragte er.
»Nein.« Kusch lachte auf. »Und sollten Sie jemals wieder auf die Idee kommen, mir den Stinkefinger zu zeigen, brech ich Ihnen das Genick.«
Zorn sah zu Boden und überlegte.
Kusch streckte ihm eine Hand entgegen, Zorn ergriff sie und beobachtete fasziniert, wie seine Finger in der riesigen Pranke verschwanden.
»Und? Was sagen Sie?«, fragte Kusch.
Zorn machte sich los und wischte die Hand am Hosenbein ab.
»Sie haben Senf an der Backe, Herr Wachtmeister.«
»Wo?«
»Rechts. Unter dem Nasenloch.«
Zorn grinste. Dann sprang er leichtfüßig die Stufen hinab.
Es war das letzte Mal, dass er Wachtmeister Kusch lebend gesehen hatte.
*
Gegen Mitternacht war das Fest in vollem Gange. Der offizielle Teil war beendet, das Büfett glich einem frisch bombardierten Schlachtfeld, die Kellner wurden müde, doch auf der Tanzfläche drängten sich lachende, tanzende Menschen, die Gesichter gerötet vom Alkohol.
Es war exakt 23 Uhr 55, als die Musik abrupt abbrach. Johlend protestierte die Menge, niemand achtete auf den Schlagzeuger, der plötzlich nicht mehr auf seinem Podest saß, als hätte ihn eine unsichtbare Hand von der Bühne gewischt.
Pfiffe wurden laut. Ein Tablett fiel zu Boden, Glas zerschellte, neben dem Eingang entstand Tumult, als ein neunzehnjähriger Aushilfskellner zusammenbrach. Am anderen Ende des Saales ertönte ein spitzer Frauenschrei, ein pensionierter Kriminaltechniker verdrehte die Augen, griff sich an die Kehle und krachte zu Boden wie ein gefällter Baum.
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