Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)
Bernhard Klein im Gespräch mit Peter Sloterdijk
Karlsruhe, 17. 12. 2012
KLEIN: Herr Sloterdijk, nach längeren Recherchen habe ich eine Auswahl Ihrer Interviews aus den letzten zwei Jahrzehnten zusammengestellt, eine enge Selektion aus einer nahezu unüberschaubaren Fülle, dennoch ein voluminöser Band. Mir ist bewußt, daß Interviews nur einen kleinen Teil Ihrer publizistischen Tätigkeit bilden – hier ist die Redewendung von der Spitze des Eisberges wirklich am Platz. Sie blicken auf eine Liste von mehr als 40 Buch-Veröffentlichungen zurück. Darüber hinaus ist eine große Zahl von Aufsätzen aus Ihrer Feder in unterschiedlichsten Zeitungen, Zeitschriften und Sammelbänden verstreut. Sie sind seit zwanzig Jahren tätig auf Lehrstühlen in Karlsruhe und Wien – die österreichische Funktion haben Sie vor nicht allzu langer Zeit niedergelegt. Daneben hatten Sie eine Agenda als Redner bei allen möglichen Anlässen, sie nehmen an einer Vielzahl von Konferenzen, Tagungen und Symposien teil. Sie hielten Lesungen aus neuen Büchern, Sie gaben Seminare, Festvorträge, Dinner Speeches. Sie führten Interviews in vielen Medien und waren mehr als zehn Jahre lang Moderator einer eigenen Fernsehsendung. Man sagt im allgemeinen »weniger ist mehr« – wie kommt es, daß bei Ihnen mehr mehr ist? Ist Ihre geradezu verzweifelte Schaffenskraft nicht auch Ausdruck einer Ohnmacht angesichts der Stummheit der Bibliothek, wie sie jeder Schriftsteller empfindet?
SLOTERDIJK: Mir scheint, die richtige Antwort auf die Frage nach den Triebfedern meiner Arbeit würde weniger ein Motiv als eine innere Verfassung offenlegen. Wenn ich auf die Jahre zurückschaue, aus denen die Auswahl dieser Gespräche genommen ist, dann ist mein erster Eindruck von mir selbst: Wehrlosigkeit, beziehungsweise Verführbarkeit. Auf mich kann man das Klischee von der endogen überschäumenden Produktivität des geborenen Autors jedenfalls nicht anwenden, ebensowenig wie das Modell der engagierten Literatur. Was man für Produktivität hält, ist in meinem Fall meistens nur die Unfähigkeit, mich gegen Vorschläge zu wehren. Eine gewisse Übernachgiebigkeit steht am Anfang. Sie ist letztlich schuld an dem ständigen Übergang von Passivität in Produktion. Allerdings wäre dieser Zustand ohne Übermut nicht zu halten gewesen. Wenn ich mich auf eine zusätzliche Aufgabe einließ, war ich offenkundig bereit, zu sagen: Das geht noch. Natürlich habe ich dabei mit der Erschöpfung Bekanntschaft geschlossen, doch stärker war ein unglaublich leichtsinniges Vertrauen auf regenerative Kräfte. Das ist im übrigen der einzig nennenswerte Unterschied zwischen früher und jetzt: Ich mache seit einer Weile die Erfahrung, wie die Regeneration sich Zeit läßt.
KLEIN: Entführen Sie uns in die Werkstatt Ihrer Kreativität. Können Sie Ihre Arbeitstechnik beschreiben und die Organisation Ihrer Bibliothek erklären. Wie erinnern Sie sich?
SLOTERDIJK: Kein Mensch kann wissen, wie sein Gedächtnis arbeitet. Ich weiß nur, daß ich ein gut aufgeräumtes inneres Archiv haben muß, selbst wenn es für Dritte als Durcheinander erschiene. Mein Archivar findet ziemlich regelmäßig Zugang zu den wichtigeren »files«, er ist ein Mitarbeiter, der mich nie enttäuscht hat. In guten Momenten holt er Dokumente hervor, von denen ich gar nicht wußte, daß sie zitierreif abgelegt sind. Er entdeckt manchmal unbewußt fast fertig geschriebene Stücke, die ich nur noch kopieren muß.
KLEIN: Inwiefern wird Ihr publizistischer Elan durch Ihre Sprachlichkeit potenziert?
SLOTERDIJK: Nun ja, Sprache wird generell als Medium der Verständigung aufgefaßt – eine Annahme, die von Schriftstellern nicht ohne weiteres akzeptiert werden dürfte. Eine kritische Minderheit sieht in der Sprache den Anfang aller Mißverständnisse. Wittgenstein meinte sogar, philosophische Probleme entstünden, wenn die Sprache feiert – was »feiern« bedeutet, wollte uns der Autor jedoch nicht verraten. Heißt es Nonsens treiben? Scheinprobleme wälzen, Überschüsse in die Luft pulvern? Jedenfalls spielte er mit der Vorstellung, man könne es genausogut bleiben lassen, die deflationäre Tendenz ist manifest. Wenn ich das lese, sehe ich einen zerknitterten Pedell ins Zimmer treten, der dem Unfug der Jungen ein Ende machen möchte. Mir kommen Anweisungen solcher Art beengend vor. Man weiß gar nicht, was noch alles möglich wird, wenn man sich aufs Feiern einläßt. Lieber halte ich es mit Wittgensteins
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