Zuckerblut
doch jetzt wandte er sich wieder an die Spurensicherung: »Kümmern wir uns lieber um die Identität. Hat die Frau Papiere bei sich?«
»Nein, nichts zu finden bisher – alle Taschen durchsucht. Wir machen noch ein paar Fotos, vielleicht erkennt jemand das Gesicht im Fernsehen.«
»Gut, wenn die Bilder fertig sind, geben wir sie zusammen mit einer Pressemeldung gleich raus.«
Er stopfte erst einmal seine Pfeife und nahm sich dann noch eine Viertelstunde Zeit, um die Örtlichkeit und die Tote intensiv zu betrachten. Ein kleines Detail vielleicht, irgendeine Besonderheit oder etwas, was nicht ganz zum Fundort passte – er wusste in solchen Situationen nie genau, wonach er suchte, ging aber immer sehr konzentriert vor.
In Gedanken versunken musterte er die Kleidung der Frau. Jeans, Turnschuhe, ein hellblaues T-Shirt und darüber eine leichte roséfarbene Sweatshirt-Jacke mit Kapuze, wie es zurzeit Mode war. Die pflegeleichte Kurzhaarfrisur war mit blonden Strähnen durchsetzt. Schmuck konnte Lindt nicht entdecken. Weder Halskette, Ohrringe, ein Armband oder Fingerringe.
Die Hände, ja, die fielen ihm auf. Wie die gesamte Erscheinung zwar durchaus gepflegt, aber dennoch kräftig, deuteten sie nicht unbedingt auf reine Büroarbeit hin. Er rätselte, welchen Beruf die Tote wohl ausgeübt hatte.
›Verheiratet, Familie?‹, überlegte er. Der Gedanke, dass irgendwo Kinder vergeblich auf ihre Mutter warten könnten machte ihm zu schaffen. Allerdings passte keine aktuelle Vermisstenmeldung. Paul Wellmann hatte das schon abgefragt.
»Rotlichtmilieu?«, fragte sich Lindt, aber der äußere Eindruck deutet nicht darauf hin. ›Nein‹, dachte er, ›weder osteuropäisch noch asiatisch. Auch keine auffällige Kosmetik im Gesicht – ganz normal halt.‹
Er sinnierte über den Ausdruck. ›Normal, was ist das eigentlich? Wer ist normal? Blöder Begriff, aber dennoch irgendwie passend.‹
Er bahnte sich einen Weg durch die dichte Vegetation mit ihren frischgrünen Blättern und umschlug den Fundort, um alles nochmals aus einer anderen Perspektive zu sehen.
Von seinem Standort, einige Meter hinter dem Kopf der Toten, konnte er die Schleifspur bis zum Waldweg einsehen. Wer immer die Frau hier abgelegt hatte, wahrscheinlich war derjenige rückwärts gegangen und hatte das Opfer dabei unter den Armen gefasst. Die Spur im Bodenlaub müsste dann durch die Fersen verursacht worden sein. Der Kommissar konnte auch aus einiger Entfernung Schmutz an den Schuhabsätzen der Toten erkennen.
Der morgendliche Landregen hatte alles gründlich durchfeuchtet und langsam begann ein unangenehmer Duft, sich zu verbreiten.
Ein Motorengeräusch schreckte ihn auf. Er schaute hoch und sah auf dem schmalen Weg einen Leichenwagen langsam rückwärts heranfahren. Die Zweige der Büsche streiften links und rechts an der Karosserie. Zwei Bestatter öffneten die Heckklappe und zogen einen Metallsarg heraus. Lindt ging auf die beiden zu: »Den können Sie im Moment noch im Wagen lassen, bis die Spurensicherung fertig ist.«
»Wir haben es bald«, rief einer der Techniker herüber. Er hatte ein dreibeiniges Fotostativ aufgestellt und machte mit einer Spiegelreflexkamera Blitzlicht-Aufnahmen aus verschiedenen Perspektiven. »Ein paar Bilder noch, dann sind wir hier so weit. Aber falls wir die weitere Umgebung absuchen müssen, brauchen wir Unterstützung.«
Lindt überlegte kurz, ob er Hundeführer und Such-trupps anfordern sollte, entschied sich dann aber dafür, nur den Weg noch genauer unter die Lupe zu nehmen.
»Ich glaube, eine großräumige Suche können wir uns sparen. So wie die Schleifspuren verlaufen und wie die Tote liegt, hatte unsere Ärztin wahrscheinlich Recht. Die Frau war bestimmt schon tot, als sie hierher transportiert wurde. Dort auf dem Weg hat man sie aus einem Wagen geladen und dann die paar Meter ins Unterholz geschleppt. Wenn ihr den weiteren Wegverlauf noch absucht, reicht mir das. Falls alles nicht schon vor, sondern während des Regens von heute Morgen passiert ist, könnte es ja doch Reifenspuren geben.«
»Auf der Strecke, die der Leichenwagen jetzt gefahren ist, habe ich bereits gesucht«, informierte ein anderer Polizeitechniker den Kommissar. »Da war nichts zu finden.«
Lindt drehte sich zu ihm um und musterte die Wegstrecke: »Warum ist der Weg hier denn so dunkel? Ist Sand eigentlich nicht heller gefärbt? Gelblich oder hellgrau?«
Auf der ganzen Länge, die einsehbar war, war der Sand auf der Wegoberfläche
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