Zuckerpüppchen - Was danach geschah
Küßchen auf die Wange gehaucht. “Ganz vorsichtig, Mammi, dann bist du heute abend wieder besser.” Sie hatte ihm zugeblinzelt, den Mund zu einem schiefen Lächeln verzogen. “Sicher, mein Schätzchen.” Sie stopfte sich voll mit Zäpfchen und wartete darauf, daß die Schmerzen erträglich wurden. Später fiel sie in einen unruhigen Halbschlaf, aus dem ihre Alpträume sie ein paarmal aufstöhnend wach werden ließen. Sie hörte Hubert nach Alex schauen und stellte sich schlafend. “Na, mein kleines Mätzchen, willst du auch nach draußen?” Sie sah, wie er das Kind fürsorglich aus dem Bettchen holte, an sich drückte und ihm den Rücken streichelte. Er lachte, als der Kleine ein Bäuerchen ließ. “Gut so, kleiner Mann, und jetzt hinaus in die große, weite Welt.” Ihm leise Koseworte zuflüsternd, verließ er mit Alex das Zimmer. Wie lieb er mit den Kindern war, wie umsichtig und zärtlich. Hatte ihre Phantasie ihr wieder einen Streich gespielt? War sie krank, litt sie an Verfolgungswahn?
“Du bist ja hysterisch”, hatte Mutti sie manchmal angefaucht, wenn das Kind Gaby wegen einer Kleinigkeit auf einmal anfing zu weinen. Weil sie nicht zum Tischtennis durfte. “Pappi sagte, du warst schon wieder frech zu ihm. Aber ein Grund, um so zu heulen, ist das ja nicht.” Wenn ihre Hände so zitterten, daß ihr eine Tasse herunterfiel. Wenn sie nachts zitternd in der Küche saß, weil sie selbst mit Licht die Fratzen ihrer Angstträume nicht vertreiben konnte. Wenn sie aufschrie, weil Mutti leise hinter ihr die Tür öffnete. “Du bist ja hysterisch.”
Wurde sie jetzt, als erwachsene Frau, wirklich hysterisch? Was war es, was sie nicht fassen und begreifen konnte, aber doch glaubte zu fühlen, zu sehen, zu riechen? Konnte sie sich denn auf ihre fünf Sinne nicht mehr verlassen?
Abends war sie wieder in diesem schwebenden Glückszustand, den die vielen Medikamente und die abklingende Migräne verursachten. Sie duschte, zog sich sorgfältig an und ging hinunter zum Essen. “Wie schön, mein Kleines, daß du wieder da bist. Wir haben uns solche Sorgen gemacht.” — “Ich habe mich ein wenig um die Kinder gekümmert”, sagte Marie-Luise. “Gott sei Dank, geht es dir wieder besser?” — “Wegen meiner Küßchen”, sagte Daniel. “Hab ich doch gesagt.” Er kroch auf ihren Schoß und schmiegte sich an sie. “Darf ich dir eine Brühe bestellen?” Hubert winkte dem Ober. “Du mußt unbedingt etwas essen.” — “Ich habe dir das eine Tuch von Renardo noch besorgen können. Du weißt schon, das er im Schaufenster hatte und eigentlich noch nicht verkaufen wollte.” Marie-Luise zog ein zartgrünes Seidentuch aus derTasche und legte es vor ihr auf den Tisch. “Es paßt wunderbar zu deinem braunen Teint.” Wie eine warme Dusche genoß Gaby die Liebe und Aufmerksamkeit um sie herum. Sie war doch wirklich verrückt, sich immer wieder diese absurden Ideen durch den Kopf gehen zu lassen. Hubert liebte sie, ihre Kinder hingen zärtlich an ihr, und selbst Marie-Luise, eine flüchtige Urlaubsbekanntschaft, zeigte ihr, daß sie mit ihr fühlte. Bloß gut, daß niemand ihre Gedanken kannte. Entsetzt würde man sich von ihr abwenden. “Ihr seid so lieb.” Gaby sah Hubert dankbar an. “Ich hab’ das eigentlich gar nicht verdient.”
Ursels Apfelkuchen prunkte mit glasig schimmerndem Aprikosengelee mitten auf dem Tisch, Dagmars Nußschnittchen zergingen auf der Zunge, Gabys Quarktorte wurde gelobt. Alle Freundinnen saßen gemütlich zusammen, und ihre Urlaubsfotos gingen von Hand zu Hand. “Was für ein romantisches Hotel!” — “Also süß, wie Alex sich hier an Hubert anschmiegt!” — “Und Daniel, wie groß er aussieht in dem Boot.” — “Wirklich ein hübsches Paar seid ihr.” Ursel reichte die Fotos weiter. “Wer ist denn die Frau, die immer wieder auf den Fotos zu sehen ist?” Ingrid zog ein wenig die Augenbrauen zusammen. “Die ist ja unwahrscheinlich stark zurechtgemacht. Ich meine, in dem Alter.” — “Eine Urlaubsbekanntschaft. Wirklich, ganz nett.” Gaby wunderte sich, wie leicht ihr das von den Lippen ging, wie etwas ganz und gar Unwichtiges, nichts, worüber sie nächtelang wach gelegen und sich den Kopf zerbrochen hatte. Vielleicht lag es an dem Glas Wein, das sie noch schnell getrunken hatte, bevor ihr Besuch kam. Oder an der Beruhigungstablette, die sie davor mit einem Schluck Martini hinuntergespült hatte. Oder an beidem. “Du hast dich anscheinend ganz gut
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