Zwei Sommer
Staubsaugerbeutels inhalieren. Schön. Genauso habe ich mir mein letztes Ferienwochenende vorgestellt.
Die Band, die heute Abend hier spielt, kennt keiner außer Johannes, und der auch nur vom Hörensagen. Irgendwelche Newcomer aus Berlin, so viel habe ich mir gemerkt. Wie sie heißen, habe ich allerdings schon wieder vergessen.
Das Mädchen, das mich die ganze Zeit vom Tresen aus beobachtet, heißt Marie. Sie schwenkt ein Glas Cola in der Hand und ich habe Angst vor ihr.
Der Bassist ist mir auf Anhieb unsympathisch. Er trägt ein T-Shirt mit der Aufschrift »Nils« und ich verstehe nicht, warum er sich eine Zigarette anzündet, kaum dass er die ersten paar Takte gespielt hat. Wenn ich tanze, tanze ich.
Erst klemmt die Zigarette in seinem Mundwinkel, dann in seinem Griffbrett. Wer weiß. Vielleicht gehört sich das ja so, wenn man aus Berlin kommt.
Johannes ist inzwischen genervt, weil wir immer noch ganz am Rand stehen. Aber es ist mir egal, ob er meinen Wunsch nach einem Stehplatz außer Sicht- und Wurfweite von Marie hysterisch findet oder nicht. Normalerweise würde ich mich bei diesem Beat auch nicht an einer schmierigen Steinmauer herumdrücken und mit dem Fuß wippen. Normalerweis e …
Wann war denn »normalerweise«?
Die Stimme des Sängers gefällt mir, nur der Typ nervt ein bisschen. Seine Bescheidenheit ist nicht echt. Man sieht ihm einfach an, dass er sich unwiderstehlich findet. Da kann er zehnmal versuchen, es hinter gesenkten Lidern und verhaspelten Ansagen zu vertuschen.
Das sind für mich schlechte Schauspieler: die, denen man ansieht, dass sie auf einer Bühne stehen. Das ist wie mit schlechten Tänzern. Das Publikum darf deinen Bewegungen niemals ansehen, dass sie einstudiert sind.
Und ich könnte wetten, Marie findet den Sänger toll. Pete hätte gesagt, er passt in ihr Beuteschema: Musiker, lange Haare, ein bisschen zerbrechlich. Komisch. Olli passt in keine einzige Kategorie.
Antonia schreit mir ins Ohr, dass sie die Band genial findet. Ich schreie zurück, dass ich sie auch genial finde. Johannes hat unseren Außenseiterposten längst verlassen und schaukelt gerade irgendwo vor der Bühne herum.
Als ich Marie heute Abend zum ersten Mal wiedersah, kam sie mir sehr verändert vor. Ob das an ihren neuen Klamotten lag? Seit wann trug Marie denn pink. Und dieses Kopftuch hatte ich auch noch nie an ihr gesehen.
Was weißt du denn noch von ihren Gewohnheiten?, fragt mich eine Stimme in meinem Kopf. Ich spüle sie mit einem Schluck Weißwein herunter.
Vielleicht sah Marie ja auch nur so anders aus, weil ich sie zum ersten Mal aus der Ferne betrachtete. Nein, musterte. Als sei sie eine Fremde.
Ich schüttle mich, wie um die Gedanken abzuschütteln. Sie machen mich ja doch nur traurig. Und sie führen nirgendwohin.
Wenn ich jetzt beginne, über den Grund eines pinkfarbenen T-Shirts nachzudenken, kann ich nicht mehr aufhören zu denken. An sie zu denken. Das ist, als wäre ein Gedanke an den nächsten geknotet. So wie Bettlaken, die aus einer Zelle baumeln.
» Missing her «, hallt es da aus den Boxen. Ich spüre plötzlich Tonis Blicke auf meinem Gesicht. Kann sie in meinen Kopf schauen oder sehe ich gerade so aus, wie ich mich fühle? Etwas scheint mir den Boden unter den Füßen zu stehlen.
Ich lehne mich an die feuchte Mauer und starre zur Bühne. Meine Blicke fixieren die Lippen des Sängers, damit ich jedes Wort verstehe, was von nun an aus den Boxen dröhnt.
Where has she gone to,
my beautiful fay,
leaving me hollow, wrecking my day.
Will we ever be again
what we used to be?
Whose heart keeps knocking
on the back door of mine?
Is it thine?
Ich wache wieder auf, als sich ein lauwarmer Tropfen vom feuchten Gemäuer löst und mir auf die Stirn klatscht. Der letzte Akkord verklingt. Angeekelt wische ich mir den Tropfen aus dem Gesicht und möchte den letzten Ton dieses Liedes festhalten.
Wie gelähmt kehre ich zurück aus diesem Song in die Wirklichkeit des Becks Stage . Als ich wieder ganz und gar bei mir bin, bin ich traurig.
Toni schiebt meine lasche Körperhaltung sofort auf das missglückte Casting und streichelt mir über den Arm. »Wer will schon für so ’ne doofe Antipickelpaste Werbung machen.« Mit dem Zeigefinger streicht sie ihren akkurat geföhnten Pony beiseite und deutet wie zum Beweis auf den Pickel auf ihrer Stirn. »Hilft doch eh nicht.«
Vielleicht tut sie das, weil sie den wahren Grund meiner Traurigkeit kennt.
Vielleicht aber auch nicht.
Ich frage mich,
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