Zwölf Wasser Zu den Anfängen
nach und nach alles Runde und Kindliche aus seinen Gesichtszügen verschwand, die Nase immer länger und schmaler geworden war, die Stirn hoch und das Kinn breit, waren seine Augen doch rund und hell geblieben und hatten sich nicht unter schweren Lidern zu Schlitzen verengt wie bei den anderen. Was nicht unbedingt ein Vorteil war, wenn man weit über die sonnendurchflutete Graslandschaft schauen wollte. Gehörte er überhaupt hierher?
Er hatte Durst, immer noch, und nachdem die Übelkeit langsam gewichen war, bekam er auch Hunger. Er hatte keine rechte Lust zu kochen, aber auch keine Lust auf trockene Fladen. Was für ein verlorener Tag. Babu nahm noch einen großen Schluck Dickmilch. Ihm ging es schlecht, er war missgelaunt – eine Verstimmung, die der Kater zwar verstärkte, die er aber auch sonst kaum noch abschütteln konnte. Nicht draußen im Grasland und erst recht nicht, wenn er nach Bator Ban zurückkehrte. Babu fragte die alten Hirten immer wieder nach den Zeiten der Weiten Wege, als die Clans noch nicht sesshaft gewesen waren und ihren Tieren durchs Gras folgten. Hatten sie damals nicht auch das Glück empfunden, das Babu verloren gegangen war? Die Hirten blieben wortkarg, wenn Babu davon anfing.
»Der Thon hört es nicht gern, wenn wir von früher sprechen«,sagten sie. »Die Gegenwart ist leicht wie Gelbhuhnflaum, die Zukunft ist golden wie das Gras der Steppe und das Gestern war blutig.«
Mühsam sammelte sich Babu die Brocken zusammen, die sie fallen ließen, und erfuhr nach und nach einiges aus der Geschichte seines Volkes, die er sich Stück für Stück zusammensetzte, wenn er abends an seinem Feuer saß.
Viele hundert Soldern lang waren die Vorväter der Merzer als Nomaden umhergewandert. Einige der alten Clans, kaum größer als drei oder vier Familien, arm, wild und nur mit ein paar mageren Rindern, waren unterwegs verschwunden. Andere waren ins Lange Tal gezogen. Das gute Gras und das milde Klima ließen die Herden wachsen und auch die Menschen vermehrten sich. Es kam zu ersten Auseinandersetzungen über die Horden – das Gebiet, das ein Clan für sich und seine Rinder beanspruchte. Die Grenzen der Horden waren nicht festgelegt und verschoben sich, wenn die Herde weiterzog. So war es nur eine Frage der Zeit, bis der Streit um Weidegrund die ersten Opfer forderte. Dieser Streit verselbstständigte sich und wurde ungeachtet der Fülle an Nahrung für die Kafur und der Weite des Landes zu einem blutigen Krieg um Macht und Vorherrschaft im Langen Tal, der über Generationen erbittert geführt wurde.
Bis zwei Brüder aus dem Dunkel der Geschichte traten und das Blut trockneten. Diese beiden Männer waren Ardat-Ilbak und Bant-Kaltak aus dem Bator-Clan, Babus Vater und Onkel. Ihrer Klugheit, ihrem Verhandlungsgeschick und ihrem unbeugsamen Willen zum Frieden war es zu verdanken, dass die Clankriege ein Ende fanden. Bald zwanzig Soldern hatten sie dafür gebraucht und eben jenes Ende – oder der Anfang, wie Bator Thon stets betonte und wie sein Volk es ihm nachsagte – war die Einheit der Clans unter einem Führer, Bator Thon, und die Gründung der Stadt, Bator Ban. Babu war dieser jüngsteTeil der Geschichte nur allzu gut bekannt, denn sein Geburtstag und die allsolderliche Feier zur Stadtgründung fielen auf einen Tag. Siebzehn Soldern war er nun alt, seit siebzehn Soldern wuchs die Stadt. Als Kind hatte er es genossen, wenn der Thon ihn, den Sohn des Friedens, auf ein herausgeputztes, mit Federn und Perlenbändern prächtig geschmücktes Kafur setzte und mit einer Ehrenrunde über den Platz vor seinem Zelt die Festlichkeiten eröffnete. Heute stand Babu nur noch dabei und einer der Enkel des Thons ritt auf dem Kafur – nicht auf einem Platz vor einem Zelt, sondern über den mit glatten Flusskieseln gepflasterten Vorhof zum weitläufigen, aus Holz und Lehm erbauten Amtssitz des unumstrittenen, geliebten und vom Volk verehrten Herrschers.
Nur Babu liebte den Thon nicht. Er hatte es immer verborgen, sogar vor sich selbst, denn es war so, wie Jator sagte: Es war
undankbar
. Sein Onkel war niemals ungerecht gegen Babu gewesen, er hatte ihn nie zu sehr bevorzugt gegenüber seinen eigenen Söhnen und dennoch immer seine Hand über den vaterlosen Jungen gehalten. Aber er hatte ihm den Vater nicht ersetzen können. Babu vermisste ihn, den Unbekannten, heute mehr als früher, und dieses Gefühl konnte er kaum noch unterdrücken. Er empfand die Abwesenheit seines Vaters als ein Loch, das
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