Zwölf Wasser Zu den Anfängen
in die eigenen Gedanken zu flüchten, aber er bemerkte, dass er selbst immer öfter und immer tiefer in Erinnerungen versank. Es war zu verführerisch. Er legte den Kopf zurück an den Stamm und schloss die Augen.
Da waren das warme Leuchten eines Lagerfeuers und Babu, der mit angewinkelten Beinen dasaß und den Rest Fleisch vom Knochen eines Schweinefußes nagte. Das mit Wäldern durchsetzte Grasland war reich an Wild und die flinken, borstigen Schweine waren besonders schmackhaft. Sie hatten bald festgestellt, dass sie alle drei nordwärts ziehen wollten, und was lag näher, als ein Stück gemeinsam zu reisen. Der Junge lernte rasch Welsisch – viel schneller, als Felt in der Lage war, BabusSprache zu lernen. Sie führten keine tiefsinnigen Gespräche, dazu reichte es nicht, Felt erzählte nichts von den Quellen, von ihrem Sterben und der unfassbaren Bedrohung für die Menschen des Kontinents. Und Babu erklärte nicht, warum er allein unterwegs war. Nur dass er auf der Suche war nach bestimmten Leuten, einem Clan, der mit seinem entfernt verwandt war. Sie sprachen nicht über die Zukunft oder die Vergangenheit, nicht einmal über die Wölfe. Felt konnte nicht darüber sprechen – dieser junge Mann war ein Fremder. Kein Freund.
Die Freundschaft verlässt den Kontinent.
Felt hatte Revas Worte im Ohr. Auch dass sie gesagt hatte, er würde sich an diesen Verlust gewöhnen, hatte er nicht vergessen. Aber er war ein Welse, er war nicht geübt darin, Freundschaften zu schließen. Selbst Wigo hatte lange gebraucht, bis er Felts Misstrauen hatte überwinden können. Felt konnte es noch so sehr wollen, konnte noch so sehr versuchen, Babu als seinen Lebensretter, als seinen Verbündeten im Kampf gegen die Bestien, als seinen Freund anzusehen – es gelang ihm nicht. Unentwegt kreisten Felts Gedanken um die Frage, ob es schlicht an seinem Charakter und seinem bisherigen Leben lag, dass Babu ihm fremd blieb, oder ob sein Unvermögen eine direkte Folge des Quellsterbens war. Früher hätte er sich diese Gedanken nicht gemacht. Nun aber wusste er vom Versiegen der Freundschaft. Dass er sich nicht willentlich darüber hinwegsetzen konnte, verunsicherte ihn zutiefst.
So wurden sie einander nicht vertraut und sprachen nicht über das Wesentliche, sondern über das Naheliegende: über das Essen, das Wetter, das schöne Land, das sie durchquerten. Felt fragte nicht nach dem großen Vogel, dieser wirkungsvollen Waffe im Kampf gegen die Bestien, aber er hatte das Gefühl, dass der Falke ihren knappen Gesprächen, den Zweiwortsätzen und mit Handzeichen bebilderten Fragen folgte und Babuhalf, Felt zu verstehen. Der Junge lernte nur deshalb so schnell Welsisch, weil er den Falken hatte.
Einmal fragte Babu nach Reva: »Wer ist sie? Sie sitzt nicht mit uns. Sie isst nicht.«
»Sie braucht nichts essen. Sie ist eine Unda. Eine Hohe Frau.«
Babu fuhr mit einem Finger unter sein Stirnband und kratzte sich.
»Eine hohe Frau?« Er zuckte mit den Achseln. »Frauen immer mehr hoch als Männer. Auch bei uns. Frau kann machen, was sie will. Frau kann Männer haben, so viele sie will. Frauen sind reich. Nichts essen? Gut, dann nicht. Kann man nichts machen.«
Felt lachte und wollte schon erzählen, dass es bei den Welsen etwas anders zuging. Dann dachte er an Estrid und schwieg.
Felt öffnete wieder die Augen: graue Stämme, lautlos zu Boden trudelnde Blätter, knorrige Äste, hängende Moose, Flechten und schwere Schlingpflanzen, von denen es tropfte. Reva, unbeweglich im weißen Dunst, gefangen im Zwischenzustand, im Gemisch aus Wasser und Luft. Wo waren eigentlich die Pferde? Felt dachte angestrengt nach, er erinnerte sich, dass sie Pferde gehabt hatten, aber wo sie jetzt waren, ob sie davongelaufen waren, ob sie tot waren, was mit ihnen geschehen war – er hatte keine Ahnung. Er erinnerte sich ans Reiten und er erinnerte sich ans Laufen. Was dazwischen gewesen sein musste, war ihm entfallen. Er erinnerte sich an den Fetzen einer Erinnerung, einen Traum im Traum oder eher einen Albtraum in einem Traum, von dem er geträumt hatte, und er konnte nicht weiter darüber nachsinnen, denn er spürte deutlich, dass er an die Grenzen seines Denkens stieß.
Er wusste: Das war die Wirkung des Waldes. Dieser Waldwar alt, so alt, dass er nicht gewachsen zu sein schien, sondern übrig geblieben aus einer Zeit vor der Zeit. Felt freute sich über diese Idee eines vorzeitlichen Waldes und hing ihr weiter nach. Es wäre nur
Weitere Kostenlose Bücher