002 - Die Angst erwacht im Todesschloss
bekommen hatte, war jedoch
– wie allgemein bekannt – ein zäher Bursche. Er legte nicht einfach eine Akte
zur Seite, nur weil ein Fall scheinbar nicht geklärt werden konnte. Die
Unterlagen Duke of Huntingdon waren
in Hafthers Archiv jederzeit greifbar. Dass er hier und da einen Beamten aufs
Schloss schickte, war mehr als eine Routinesache. Er wollte damit auch
denjenigen, die unmittelbar betroffen waren, zeigen, dass die Angelegenheit
eben nicht vergessen war. Bei ihm wuchs nicht so schnell Gras über eine Sache.
Und – dieser Meinung war Hafther – wenn es schon nicht gelang, durch Logik
und Vernunft weiter zu kommen, konnte man von Fall zu Fall auch mal mit dem
Zufall rechnen. Wie oft hatte gerade der bei der Aufklärung manch
außergewöhnlichen Kriminalfalles eine Rolle gespielt.
Unwillkürlich musste der Duke an all die Dinge denken, als er das große
Gesellschaftszimmer betrat. Er konnte sich gut vorstellen, was im Kopf von
Chiefinspektor Hafther vorging.
Farbenfrohe, kostbare Teppiche bedeckten den Boden. Wände und Regale waren
gefüllt mit wertvollen Kunstgegenständen und Gemälden. Vier Kristalllüster,
venezianische Arbeiten, die im 16. Jahrhundert angefertigt wurden, hingen
schwer von der Decke herab.
Der Gesellschaftsraum war leer. Der Duke betätigte die Klingel. Er brauchte
kaum eine Minute zu warten. Eine Seitentür öffnete sich fast lautlos. Der
irische Diener John, ein schwerer Mann mit breiten Schultern und ruhigem,
ausgeglichenem Gesicht, betrat das Zimmer.
»Sie haben geläutet, Sir?« John flüsterte fast, zupfte mechanisch seine
Livrée zurecht und blickte seinen Herrn aufmerksam an.
John, der Ire, versah stets treu seinen Dienst. Er war bereits seit mehr
als zwölf Jahren im Haus. Die Vorfälle, die vor drei Jahren ganz England
schockierten, hatten den Iren nicht bewogen, den Duke von sich aus zu
verlassen, wie viele andere Angestellte des Schlosses das spontan getan hatten.
»Wo sind meine Töchter, John? Die beiden Gäste, Ellen und ihr Verlobter?«,
fragte der Schlossbesitzer, während er zwei Schritte auf seinem Diener zuging.
»Im Blauen Salon, Sir.« Der Diener verbeugte sich leicht. »Die Herrschaften
und Gäste spielten bis vor etwa einer Viertelstunde hier im Gesellschaftszimmer
noch Bridge. Dann entschloss man sich plötzlich, die Aquarell- und
Ölgemäldesammlung im Blauen Salon anzusehen. Der Verlobte Ihrer verehrten
Nichte, Sir, scheint ein großer Kunstkenner und auch -freund zu sein. Ich
glaube, dass die Besucher noch eine Nacht länger bleiben wollen, Sir«, fügte
John unvermittelt hinzu.
Der Duke hob kaum merklich die dichten, schwarzen Augenbrauen. »Ja, ich
weiß, John«, murmelte er leise. »Gerade deswegen möchte ich die Herrschaften
auch sprechen. Vielen Dank!«
Er ging hochaufgerichtet an seinem Diener vorbei, die Lippen fest
zusammengepresst. Die Wangenmuskeln des Duke zuckten. Er musste seine Besucher
davon überzeugen. Es war der 23 ...
Der Gast, der an diesem Abend in das Schloss kommen würde, liebte es nicht,
wenn schon andere Gäste da waren ...
Der Schlossherr betrat den Blauen Salon. Noch bevor er die Tür öffnete,
hörte er Stimmengewirr, eine klare freundliche Stimme, ein leises Lachen. Harry
Banning, der Verlobte seiner Nichte Ellen, ließ sich ausführlich über die
Arbeiten eines alten englischen Meisters aus.
Der Duke klopfte an, wartete auf das Herein und drückte dann die schwere Klinke herab. Er wurde freundlich empfangen
und war im Nu von seinen beiden Töchtern und den Besuchern umringt.
»Harry ist ein ausgezeichneter Kommentator, Vater«, sagte Margarete, seine
jüngste Tochter. Sie war dreiundzwanzig und studierte Archäologie. Der Duke
fand, dass Margarete ihrer leider allzu früh verstorbenen Mutter immer
ähnlicher wurde. Sie hatte deren große dunkle Augen geerbt, das schwere
schwarze Haar und den zarten bronzefarbenen Teint, der ihre Schönheit hervorhob
und ihr etwas Exotisches verlieh.
Er lächelte kaum merklich, doch seine Augen lächelten nicht mit. »Ja, ich
weiß«, sagte er abwesend, während seine Gedanken meilenweit entfernt waren. »Er
ist ein Kunstkenner, wie wir lange keinen mehr im Schloss hatten.«
Margarete war begeistert. »Er sieht Dinge darin, die mir noch gar nicht
aufgefallen sind, Dad. Er sagt, dass sich die Schafherde, die sich um ihren
Hirten versammelt, scheu und angsterfüllt in seiner Nähe aufhält, nicht vor den
Hunden flüchtet, die in großen Sätzen die versprengten Schafe
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