002 - Die Angst erwacht im Todesschloss
Lippen.
Mit einem Ruck wandte er sich um.
Er musste etwas tun. Die beiden Gäste konnten nicht länger im Schloss
bleiben, und er durfte einer Verlängerung ihres Aufenthaltes auf keinen Fall
zustimmen. Es wäre verantwortungslos gewesen. Heute war der 23. Oktober ...
Der Duke ging mit raschen Schritten durch die geräumige Bibliothek. Die
Bücherschränke waren zum Bersten gefüllt. Die kostbaren, goldbeschrifteten
Bände schimmerten hinter den Glaswänden der Schränke. Mehr als dreißigtausend
Bücher umfasste die Bibliothek, die das Herz eines jeden Sammlers hätte höher
schlagen lassen. Es waren Bände seltener und kostbarer Art aus dem 15. und 16.
Jahrhundert, mehr als dreihundert Bibeln aus dem Mittelalter, von denen einige
die Größe eines kleinen Schreibtisches hatten.
Die Bibliothek war insgesamt in sechs verschiedene Räume unterteilt. Jeder
zeugte vom einstigen Reichtum der Familie des Duke. Die alten Möbel: kostbare
Sessel und Stühle mit farbenprächtigen, teuren Stoffen bespannt, ein breiter
wuchtiger Schrank aus dem 16. Jahrhundert mit wertvollen Intarsienarbeiten. Die
Szenen in den Schranktüren zeigten Ausschnitte aus dem bewegten Leben der
Vorfahren des Duke, der seinen Stammbaum bis in das frühe 14. Jahrhundert
zurückführen konnte.
Der Mann durcheilte alle sechs Räume. Im Kamin des letzten
Bibliothekzimmers brannten dicke Holzscheite. Die Lampe neben dem Lesetisch war
noch nicht ausgeschaltet. Der Duke hatte in den frühen Nachmittagsstunden hier
gesessen und gelesen. Er machte sich jetzt, als er den Raum verließ, nicht die
Mühe, das Licht auszuschalten.
Er war ganz in Gedanken versunken ... Die Tür fiel hinter ihm ins Schloss.
Mit raschen Schritten eilte der Duke of Huntingdon, einer der letzten Träger
dieses Namens, die einem Bruder des berühmt-berüchtigten Edward of Huntingdon
entstammten, durch die Gänge.
Er erreichte ein Rondell, in das zahllose Zimmer mündeten. Viele dieser
Räume trugen deutlich erkennbare, moderne Ziffern. Dieser Flügel des Schlosses
war eine gewisse Zeit den Touristen und Gästen vorbehalten gewesen, die aus und
nach England kamen und vielleicht eine Nacht unter mittelalterlichen
Bedingungen verbrachten, um später erzählen zu können, in einem der ältesten
Schlösser Englands einem Gespenst begegnet zu sein.
Das Schloss des Duke war sehr groß. Es verfügte über rund achtzig Zimmer.
Ein Großteil davon wurde seit geraumer Zeit nicht mehr gereinigt. Die Einrichtungen
verkamen. Der Duke lebte mit seinen beiden Töchtern, einer ältlichen Hausdame
und einem irischen Diener allein in diesem großen Gebäudekomplex, der mühelos
fünfzig Familien dieser Größe hätte aufnehmen können, ohne dass man sich
gegenseitig auf die Füße getreten wäre.
Touristen und Gäste kamen nicht mehr in das Schloss, und so war auch dieser
Flügel der allgemeinen Verschmutzung und dem langsamen Verfall preisgegeben.
Die Hausdame und der Diener hatten Mühe, gerade die Räume zu pflegen, die von
der Familie des Duke noch bewohnt wurden.
Früher, als der Touristenstrom noch floss, waren viele Angestellte im
Schloss gewesen. Doch dann kam es zu einigen rätselhaften Vorfällen, die den
Zulauf schlagartig versiegen ließen.
Einige Übernachtungsgäste wurden – ermordet ...
Wie ein Lauffeuer verbreitete sich diese Nachricht in ganz England.
Scotland Yard schaltete sich ein. Peinliche Verhöre und Untersuchungen
erfolgten. Doch sie verliefen ergebnislos.
Das Schloss bekam einen schlechten Ruf, und man nannte es allgemein nur
noch das Todesschloss .
Dem Duke blieb nichts weiter übrig, als seine Angestellten zu entlassen und
nur noch die Hausdame und den Diener zu behalten.
Anders war es finanziell nicht mehr möglich.
Die ungeklärten Vorfälle waren der Grund dafür, dass sich der Duke aus dem
öffentlichen Leben zurückzog. Es wurde ruhig um ihn und seine Familie. Man mied
ihn, sein Schloss und seine Gesellschaft ... Man munkelte, dass er vielleicht
selbst etwas mit den rätselhaften Mordfällen zu tun gehabt hatte. Doch eine
Schuld wurde ihm nie nachgewiesen.
In unregelmäßigen Abständen – mal nach einem Vierteljahr, mal nach sieben
oder acht Monaten – tauchte jedoch immer wieder ein Beamter von Scotland Yard
auf, unterhielt sich mit ihm, stellte Fragen, sah sich um und verschwand dann
wieder. Der Yard hatte es längst aufgegeben, Licht in die dunkle Angelegenheit
zu bringen. So jedenfalls schien es.
Chiefinspektor Hafther, der den Fall übertragen
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