006 - Der lebende Leichnam
dass die Sonne jetzt strahlend hell durch das weit offene Fenster scheint. Sicher ist es schon sehr spät, aber ich habe keine Uhr.
Ich springe aus dem Bett, trete ans Fenster und hole tief Luft. Der Platz unter mir ist sehr belebt. Ein Polizist regelt den Verkehr.
Ich habe mich erholt, bin wieder bei Kräften, und mein Magen knurrt vor Hunger. Ich hebe den Telefonhörer ab.
»Hallo?« meldet sich eine müde Stimme.
»Wie spät ist es?«
»Zehn Minuten vor zwölf.«
»Danke.«
Zu dumm, dass ich so lange geschlafen habe. Gefährlich obendrein, denn wenn zufällig die Polizei das Hotel durchsucht hätte, wäre ich gezwungen gewesen, meine neuen Fähigkeiten anzuwenden. Damit hätte ich wieder ihre Aufmerksamkeit auf mich gelenkt.
Trotz meines Hungers verzichte ich auf ein Frühstück. Beim Gedanken an eine Tasse Kaffee und frische Brötchen mit Butter und Marmelade spüre ich Ekel in mir aufsteigen. Ich brauche etwas Handfesteres. Rohes Fleisch zum Beispiel. Ich werde in einen Metzgerladen gehen.
Sofort beginne ich meine Toilette. Bin ich wirklich noch einmal gealtert, wie ich in dem Taxi festzustellen glaubte? Schwer zu sagen. Auf jeden Fall habe ich jetzt das Gesicht eines Mannes von mindestens fünfundvierzig Jahren.
Es klopft an der Tür.
»Herein!«
Ein Zimmermädchen. Nicht besonders hübsch, aber mit üppigen Formen. Ein frisches, gesundes Bauernmädchen von herausfordernder Vitalität.
Ich spüre, wie mein Herz schneller schlägt. Mein Blick heftet sich auf ihren Hals. Lässt ihn nicht los. Meine Begierde wächst.
»Ich komme wegen des Zimmers. Bleiben Sie noch eine Nacht?«
»Nein.«
Ich bemühe mich, die Gefühle des Mädchens einzuschläfern, es gefügig zu machen. Sofort stellt sich der Erfolg ein. Willenlos steht sie da und sieht mich wortlos an. Ich komme mir vor wie eine Riesenschlange, die ihr Opfer hypnotisiert, bevor sie es verschlingt.
Wie ein Automat bewegt sich das Mädchen lächelnd auf mich zu und bietet mir seinen Hals dar. Ich weiß genau, dass sie sich nachher an nichts mehr erinnern wird. Ein letzter Blick in den Spiegel, und ich öffne den Mund.
In einer einzigen Nacht sind meine Eckzähne doppelt so lang geworden wie vorher und darüber hinaus so spitz wie die eines Wolfes.
»Hab keine Angst. Du wirst nichts spüren.«
Ich stehe auf der Straße. Ich habe zwar die Rechnung beglichen, aber wohlweislich das Anmeldeformular nicht ausgefüllt. Die Besitzerin des Hotels hat es mir im Empfang hingeschoben, aber ich habe sofort reagiert und ihr befohlen, es wieder wegzulegen.
Das Zimmermädchen liegt quer über meinem Bett. Bald wird sie aufstehen, sich ein wenig müde fühlen, aber dem Wetter die Schuld daran geben.
Erst jetzt bin ich wieder richtig in Form. Ich hatte mich nicht getäuscht.
Ich kaufe eine Zeitung, dann lenke ich meine Schritte zu einem Café. An einem Tisch im Hintergrund des Raums nehme ich Platz. Was soll ich trinken? Vor Alkohol ekelt mich plötzlich.
Verwundert stelle ich fest, dass ich seit dem Erwachen keine einzige Zigarette geraucht habe. Ich habe keine Lust mehr. Ich bestelle ein Glas Mineralwasser, dann schlage ich die Zeitung auf.
Eine Interpellation über meinen Fall in der Abgeordnetenkammer. Ich bin eine wichtige Persönlichkeit geworden.
Das erfüllt mich mit Stolz. Außerdem hat Marlat eine Pressekonferenz gegeben.
Unter den Wissenschaftlern ist man geteilter Meinung. Diese Burschen bringen mich zum Lachen. Da verteidigen sie doch ganz ernsthaft ihren Standpunkt über etwas, das sie gar nicht verstehen. Es ist wirklich zum Totlachen.
Der einzige, der tatsächlich Bescheid weiß, ist Marlat. Diesmal geht er noch weiter als bei seinen ersten Erklärungen. Er spricht die Befürchtung aus, dass ich, wenn meine biologische Entwicklung nicht gebremst wird, unter Umständen meine menschliche Gestalt verliere.
Ich würde mich in ein monströses Ungeheuer verwandeln. Ein Wesen, wie man es noch nie gesehen hat. Vielleicht unverwundbar und unsterblich. Da ist wohl seine Phantasie mit ihm durchgegangen. Ich soll meine menschliche Gestalt verlieren? Mich in ein anderes Wesen verwandeln? So ein Blödsinn.
Natürlich ist das nur eine Hypothese, und er gibt zu, dass er noch viel schrecklichere Möglichkeiten für mich voraussieht. Er fordert mich auf – falls ich überhaupt noch Mensch genug bin, um seine Nachricht zu verstehen –, mich freiwillig der Polizei zu stellen.
Ein Versuch, mich einzuschüchtern. Er will mir Angst ein jagen, aber
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