0063 - Der Hüter des Bösen
der Tempel wirkte insgesamt keineswegs nur wie eine Ruine, die der toten Vergangenheit angehörte.
»Wird dieser Tempel noch benutzt?«, fragte Giraudoux.
Der iranische Gastgeber bejahte. »Es handelt sich hier um eine Kultstätte, an der diverse nomadische Gottheiten verehrt werden«, sagte er. »Unser Volk gehört zwar mit über neunzig Prozent dem Islam an, aber es gibt noch einige Volksgruppen, die den Religionen der Väter zugewandt sind. Hier ist eins dieser Zentren heidnischer Götterverehrung. Alte Gewohnheiten sind schwer zu brechen.«
»Besteht die Möglichkeit zu einer Besichtigung?«, erkundigte sich Mouslin, der schon immer eine Schwäche für das Fremdartige gehabt hatte.
»Gewiss doch«, antwortete der Gastgeber. »Die Einheimischen würden es sich als Ehre anrechnen, wenn Sie sich…« Er unterbrach sich und ließ seine Augen zu einer Gruppe von buntgekleideten Männern wandern, die in diesem Moment auf die Diplomaten zukam. »Ah, da sind sie ja. Und der Oberpriester befindet sich auch unter ihnen. Einen Augenblick, bitte.«
Er trat den Neuankömmlingen entgegen und sprach in einem Dialekt mit ihnen, den die beiden Delegationsleiter und ihre französischen Begleiter nicht verstehen konnten.
Ein hochgewachsener Mann mit einem eisgrauen Vollbart, der von Kopf bis Fuß in ein symbolbedecktes Gewand eingehüllt war, machte sich zum Sprecher der Einheimischen. Offenbar handelte es sich bei ihm um den Oberpriester.
Nach einem kurzen Dialog mit dem Priester kam der Gastgeber zu den Franzosen zurück. »Wie ich schon sagte, er ist beglückt, Ihnen seine Götter vorstellen zu dürfen. Wenn Sie interessiert sind… Er ist sogar bereit, Sie in den Mittelpunkt eines Zeremoniells zu stellen, das Sie die Macht der Götzen besonders eindringlich spüren lässt. Der Lohn wird eine beträchtliche Vergrößerung Ihrer geistigen und körperlichen Kräfte sein. Wollen Sie?«
Jacques Giraudoux sah nicht gerade sehr glücklich aus. »Die Macht der Götzen? Ich weiß nicht. Hört sich ein bisschen unheimlich an. Was meinst du, Georges?«
Mouslin lachte. »Aber Jacques! Ich bitte dich, was soll schon passieren? Du wirst doch solchen Mummenschanz nicht etwa ernst nehmen. Und außerdem – ich hätte gar nichts dagegen, wenn ich stärker und klüger würde.«
»Das hört sich ja beinahe an, als hältst du das ganze gar nicht für Mummenschanz, sondern für eine reale Sache.«
Wieder lachte Mouslin. »Nein, das tue ich ganz bestimmt nicht. Trotzdem reizt es mich. Komm, zieren wir uns nicht lange. Du bist ein aufgeklärter Mensch des zwanzigsten Jahrhunderts und wirst dich doch nicht allen Ernstes vor ein paar alten Götzen fürchten.«
Trotz seiner instinktiven Abneigung blieb Giraudoux gar nichts anderes übrig, als klein beizugeben. Erstens wollte er sich nicht lächerlich machen, und zweitens durfte er nicht übersehen, dass Mouslin der Ranghöhere von ihnen war. Trotz der Freundschaft, die sie miteinander verband, bedeutete der Rangunterschied immerhin eine gewisse Abhängigkeit. Er sagte also zu.
Der Oberpriester geleitete sie in den Tempel. Das ungute Gefühl in Giraudoux wuchs, denn der Priester hatte darauf bestanden, dass nur er selbst und Mouslin mit von der Partie waren. Die anderen Franzosen und die Mitglieder der iranischen Delegation mussten draußen bleiben.
Inmitten der Einheimischen, asketisch wirkenden Männern mit fanatisch glitzernden Augen, betraten sie das Innere der Kultstätte.
Die Atmosphäre war bedrückend. Giraudoux meinte die Last der Steinquader, aus denen der Tempel bestand, förmlich auf seinen Schultern zu spüren. Rauchende Fackeln waren überall an den Wänden angebracht und tauchten das Tempelinnere in diffuses flackerndes Licht. Er glaubte überall Schemen und andere unwirkliche Gestalten zu sehen. Aber hierbei handelte es sich doch wohl nur um Sinnestäuschungen, denn in Wirklichkeit waren nur zwei Götterbildnisse vorhanden.
Diese jedoch hatten es in sich. Sie standen links und rechts von einem glatt polierten, schwarzen Steinblock, der anscheinend so etwas wie einem Altar entsprach. Mehrere Stufen führten zu Steinblock und Götterbildnissen empor.
Die beiden Figuren sahen erschreckend aus. Fast fünf Meter hoch, massig und schwer, wirkten sie in der Tat wie Symbole ungeheurer Stärke. Ihre Köpfe waren abscheuliche Fratzen – halb Bestie, halb Mensch. Der eine Götze erinnerte an einen Vogel, der in der finstersten Hölle zu Hause zu sein schien. Der andere ähnelte
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