0094 - Das Grauen lauert in Soho
großartige Illusionistin. Sie hätte auf den großen Bühnen dieser Welt zu Hause sein können, wenn sie es nicht vorgezogen hätte, weitgehend auf Tourneen zu verzichten. Das tat sie nur ein paarmal im Jahr. Um in Übung zu bleiben, wie sie sich ausdrückte.
Selbst für die Fachwelt professioneller Zauberkünstler war diese Frau ein Phänomen. Noch keinem ihrer zahllosen Kollegen war es je gelungen, hinter einen ihrer spektakulären Haupttricks zu kommen. Deshalb gab es nicht wenige Bühnenmagier, die behaupteten, Norna de Brainvilles Kunststücke wären mit technischen Mitteln, überhaupt nicht zu bewerkstelligen. Die Frau lächelte nur ihr rätselhaftes Lächeln, wenn man sie in Fachkreisen darauf ansprach. Sie gab keinerlei Erklärungen ab.
Auch Zamorra und Nicole standen in dem Kreis, der sich um den Käfig gebildet hatte. Ein heftiger Windstoß fuhr plötzlich durch den Ballsaal und ließ sämtliche fünfhundert Kerzen in den Kandelabern und Leuchtern verlöschen. Wie ein Eishauch rauschte es durch den Saal. Dabei waren Fenster und Türen geschlossen. Draußen über dem weiträumigen Park brütete die Augusthitze. Gäste rückten unwillkürlich näher zusammen, fremde Hände suchten und fanden sich. Manch einer glaubte, sein Pulsschlag müsse noch vom Nebenmann zu hören sein.
Im Raum war es dennoch nicht ganz dunkel geworden. Scheinwerfer strahlten, obwohl nirgendwo ein Scheinwerfer zu entdecken war. Ein Raunen ging durch die Menge. Selbst Zamorra konnte sich dem Bann dieser Stimmung nicht entziehen.
Dann ein Schrei!
Eine blauweiße Rauchwolke schoß aus dem Käfig, nebelte ihn ein, umwirbelte ihn wie ein Taifun und fiel urplötzlich wieder in sich zusammen. Die imaginären Scheinwerfer erloschen schlagartig, und in derselben Sekunde brannten die vielen hundert Kerzen wieder, warfen ihren weichen Schein auf das Unheimliche.
Der Käfig war verschwunden. An seiner Stelle stand ein goldener Thron, auf dessen schwellenden Polstern sich eine sündhaft schöne Frau räkelte.
Norna de Brainville…
Ihr flammendrotes Haar fiel in ungebändigten Locken auf fraulich runde Schultern hinab, umrahmten ein apartes ovales Gesicht mit schräggestellten Katzenaugen und einem tiefroten sinnlichen Mund. Die Frau lächelte leicht und war sich der Wirkung auf ihre Gäste vollkommen bewußt.
Sie erhob sich und stand wie eine Statue aus edlem Alabastermarmor. Ihr makelloser Körper war von einem Tigerfell bedeckt, das ihre langen, schlanken Beine und auch den Nabel freiließ, in dem ein taubeneigroßer Rubin funkelte.
Norna warf mit einer wilden Bewegung ihres rassigen Kopfes die Haare in den Nacken. Ihre gelben Bernsteinaugen blitzten über die atemlos stehende Menge.
Es dauerte Sekunden, bis die Überraschung, der Schock, sich in frenetischem, nicht enden wollenden Beifall entlud. Das Publikum raste. Norna hatte wieder einmal mehr öffentlich eine Probe ihres Könnens abgelegt.
Norna, die Illusionistin.
Oder Norna, die Hexe? Die Magierin? Die Frau, die mit dem Teufel im Bunde stand?
Die Gastgeberin schüttelte Hände, nahm eine Unmenge artigster Komplimente entgegen und konnte sich der Glückwünsche zu ihrem neuesten einzigartigen Trick kaum mehr erwehren.
Erst nach einer halben Stunde war die Begeisterung so weit abgeebbt, daß Norna de Brainville sich auch um jene Gäste kümmern konnte, die ihr besonders am Herzen lagen. Eine Band spielte, und Monstermasken drehten sich im Tanz. Champagner und Wein flossen in Strömen. Diener mit nackten Oberkörpern und Kabbalazeichen auf der Brust servierten Cocktails.
»Das Fest ist gelungen«, sagte Jake Brabham zu Norna.
Jake hatte sich als Phantom mit Fledermausumhang verkleidet. Seine blondgelockten Haare waren unter einer violetten, glatt anliegenden Kapuze verborgen, die bis unter die unwahrscheinlich blauen Augen reichte.
Norna hauchte dem Mann einen Kuß auf die Wange.
»So soll es auch sein, mein Lieber. Sie haben wieder etwas, worüber sie sich die nächsten Wochen die Mäuler zerreißen können.«
»Du warst phantastisch.«
»Natürlich war ich das. Ich kann es den Leuten nicht einmal verübeln, wenn sie mich für eine Hexe halten.«
Jake Brabham schmunzelte.
»Wie solltest du auch? Schließlich bist du eine.«
Norna de Brainville legte ihren Zeigefinger mit dem langen, violett gefärbten Nagel auf ihre vollen weinroten Lippen.
»Nicht so laut, Liebling. Professor Zamorra kommt auf uns zu.«
»Oh!«
Die beiden jungen Menschen wandten sich um. Norna de
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