01 - Gott schütze dieses Haus
ihrem Vater alles recht gemacht und sie müsse das auch tun. Und beiden wurde auf der Grundlage der Bibel - aus den Passagen, die Teys sorgfältig ausgewählt hatte und die er in seinem Sinn interpretierte - gelehrt, daß das, was sie taten, nicht nur recht, sondern ihnen von Gott als töchterliche Pflicht vorgeschrieben war.«
»Das macht mich ganz krank.«
»Es ist krank. Er war krank. Schauen Sie sich seine Krankheit an: Er nahm sich ein Kind zur Frau. Das war ungefährlich. Die Erwachsenenwelt war bedrohlich für ihn, und in der Person dieser Vierzehnjährigen hatte er eine Ehefrau, die ihn mit ihrem kindlichen Körper erregen konnte, während durch die Heirat zugleich sein Streben nach Selbstachtung und Ansehen in der Gemeinde befriedigt wurde.«
»Warum verging er sich dann an seinen Kindern?«
»Als Tessa - die Kindfrau, die er sich gewählt hatte - ein Kind zur Welt brachte, sah sich Teys vor die beängstigende Tatsache gestellt, daß dieses Geschöpf, dessen Körper ihn so erregte, gar kein Kind war, sondern eine Frau. Und von Frauen fühlte er sich, vermute ich, bedroht. Sie repräsentierten ja den weiblichen Aspekt der Erwachsenenwelt, die ihm angst machte.«
»Sie erzählte, er habe nach der Geburt nicht mehr mit ihr geschlafen.«
»Daran zweifle ich nicht. Stellen Sie sich die Demütigung vor, wenn er mit ihr geschlafen hätte und impotent gewesen wäre. Weshalb sollte er eine solche Niederlage riskieren, wo er doch einen wehrlosen Säugling im Haus hatte, bei dem er sich ungehindert Lust und Befriedigung verschaffen konnte.«
Lynley schnürte es die Kehle zu.
»Säugling?« krächzte er heiser. »Soll das heißen ...?«
Samuels nickte nur. »Ich würde denken, daß er Gillian schon mißbraucht hat, als sie noch im Säuglingsalter war. Ihrer Erinnerung nach geschah es das erstemal, als sie vier oder fünf Jahre alt war, aber es ist unwahrscheinlich, daß Teys so lange gewartet hat, es sei denn, seine Religion hat ihm in diesen Jahren Selbstbeherrschung verliehen. Möglich ist es.«
Seine Religion. Lynley verspürte einen unbändigen Zorn. Er beherrschte ihn mit Mühe.
»Sie kommt vor Gericht.«
»Früher oder später, ja. Roberta wird gesund werden. Sie wird prozeßfähig sein.« Samuels drehte seinen Stuhl, um die Gruppe im Garten sehen zu können. »Aber Sie wissen so gut wie ich, Inspector, daß kein Schwurgericht der Welt sie verurteilen wird, wenn die Wahrheit ans Licht kommt. Wir können also vielleicht doch noch daran glauben, daß es Gerechtigkeit für sie geben wird.«
Die Bäume rund um die St.-Catherine's-Kirche warfen lange Schatten auf den Bau, so daß sich drinnen Dämmerlicht ausbreitete, obwohl es draußen noch hell war. Blutig lag das Licht, das durch die roten Teile der Mosaikfenster fiel, auf dem gesprungenen Steinboden und unter den Standbildern, die ihn zu beobachten schienen. Votivkerzen flackerten. Die Luft in der Kirche war still und tot, und er fröstelte auf seinem Weg zu dem elisabethanischen Beichtstuhl.
Er öffnete die Tür, trat in die kleine Zelle, kniete nieder und wartete. Es war ganz dunkel und ganz still. Die richtige Stimmung zur Meditation über die eigenen Sünden, dachte Lynley.
Ein Gitter wurde in der Finsternis verschoben. Eine gedämpfte Stimme murmelte Gebete, die an einen Gott gerichtet waren, den es nicht gab.
Dann: »Ja, mein Kind?«
Im letzten Moment fragte er sich, ob er es fertigbringen würde. Aber dann sprach er schon.
»Er kam hierher zu Ihnen«, sagte Lynley. »Hier hat er seine Sünden gebeichtet. Haben Sie ihm die Absolution erteilt, Pater? Malten Sie irgendein mystisches Zeichen in die Luft, das William Teys sagte, daß er von der Sünde des Mißbrauchs seiner Kinder frei war? Was sagten Sie ihm? Gaben Sie ihm Ihren Segen? Entließen Sie ihn mit gereinigter Seele aus dem Beichtstuhl, damit er auf seinen Hof zurückkehren und wieder damit anfangen konnte? War es so?«
Statt einer Antwort hörte er nur das Atmen, schnell und stoßweise.
»Und hat Gillian gebeichtet? Oder hatte sie zu große Angst? Haben Sie mit ihr über das gesprochen, was ihr Vater ihr antat? Haben Sie versucht, ihr zu helfen?«
»Ich ...« Die Stimme schien aus weiter Ferne zu kommen. »Verstehen und verzeihen.«
»Das haben Sie ihr gesagt? Verstehen? Verzeihen? Und wie war es bei Roberta? Sollte sie auch verstehen und verzeihen? Ein sechzehnjähriges Mädchen sollte verstehen lernen, daß ihr Vater sie vergewaltigte, sie schwängerte und ihr Kind dann
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