0108 - Das Eisgefängnis
wurde vom Kirchenportal aus freigehalten. Polizisten sorgten für die Absperrung, im Verein mit den härtesten Mafiosi.
Deren Jacken beulten sich unter den Schultern verdächtig aus. Die Männer legten ihre Waffen nie ab.
Um 15 Uhr sollte die Trauerfeier beginnen.
Noch eine halbe Stunde.
Die letzten Nachzügler trafen ein. Sie konnten nur noch am Rand der Menge ihren Platz finden und stellten sich auf die mitgebrachten Hocker und Schemel, um wenigstens etwas sehen zu können.
Dann rollten schwere Limousinen heran. Mercedes-Wagen der oberen Preisklasse. Jeder Wagen besaß schußsichere Scheiben und gepanzertes Blech. Ebenso waren die Reifen aus einem Material hergestellt, das Kugeln widerstand.
In den Wagen saßen die Dons der anderen Familien. Sie waren aus Rom angereist, aus Mailand, Venedig und Neapel. Sie alle wollten Solo Morasso den letzten Dienst erweisen.
Für die Wagen war ein Parkplatz zur Verfügung gestellt worden.
Hinter der Kirche fanden die Fahrzeuge ihre Plätze.
Die Dons ließen die großen Kränze abladen und zu dem schwarzen Holzaufbau bringen, der in der Mitte des Platzes errichtet worden war. Dort sollte der Sarg stehen und noch einmal von allen gesehen werden.
Es war ein besonderer Sarg. Er bestand zwar aus Holz, aber dort, wo der Kopf des Toten lag, war das Holz durch zwei Glasfenster ersetzt worden.
Jeder konnte das Gesicht sehen.
Noch einmal Abschied nehmen. Von einem Mann, der Palermo beherrscht hatte, ein Verbrecher war und doch von vielen Menschen als Wohltäter angesehen wurde.
Welch eine verkehrte Welt.
Noch wenige Minuten.
Die anderen Dons hatten Aufstellung genommen. Ein Musikzug spielte Trauermelodien.
In der Kirche warteten vier Sargträger. Sie bückten sich, und ihre Finger umfaßten die Griffe.
Dann hoben sie den Sarg an.
Die Blumen und Kränze wurden hinausgeschafft und unterhalb des Podests aufgebaut. Mit gemessenen Schritten durchquerten die Träger den Mittelgang der Kirche. Das Portal wurde aufgestoßen.
Blendend weißes Sonnenlicht strömte in die Kirche und ergoß sich als heller Schein über die dicht hinter dem Eingang stehenden dunklen Bänke.
Nichts rührte sich in den Gesichtern der vier Leibwächter, als sie den Sarg aus der Kirche trugen.
Schweigen empfing sie.
Ehrfürchtig, andächtig…
Für einen Augenblick spiegelte sich die Sonne in der linken Scheibe des Sargs.
Die Leibwächter blieben für einen Moment auf der obersten Stufe stehen. Sie blinzelten in das grelle Licht. Dunkle Brillen hatten sie nicht aufgesetzt.
Dann gingen sie weiter.
Sechs breite Stufen waren es. Die ersten Menschen nahmen ihre Hüte ab und verneigten sich vor dem Sarg. Man wußte, was man dem großen Don Solo schuldig war.
Die vier Sargträger steuerten nun das Podest an. Wie in der Kirche gingen sie auch hier im Gleichschritt. Unbeweglich blieben ihre Gesichter, als sie die mit schwarzem Tuch verkleideten Holzstufen hinaufschritten, sich auf der Plattform drehten und den Sarg so hinstellten, damit er mit dem Kopfende zu den Zuschauern zeigte, so daß zahlreiche Menschen durch die Fenster schauen konnten.
Sie sahen ein bleiches Gesicht, das der Kosmetiker präpariert hatte, denn der Don hatte sich sehr quälen müssen. Der Infarkt war äußerst schmerzhaft gewesen.
Dumpf hallten die Schritte der Leibwächter, als die Männer zurückgingen und sich zu den anderen Mafiosi gesellten.
Einige Frauen weinten.
In den Gesichtern der Männer regte sich kein Muskel.
Man wartete auf den Priester. Offiziell hatte man Solo Morasso nichts beweisen können, deshalb wurde ihm auch eine christliche Beerdigung zugestanden.
Solo Morasso sollte am Rande der Stadt beerdigt werden. In einem extra für ihn gebauten Mausoleum, dafür hatte er schon zu Lebzeiten gesorgt.
Als Mafioso lebte er gefährlich, auch als mächtiger Mafioso, denn Feinde und Neider hat jeder. Solo Morasso hatte sich von unten hochgearbeitet und es mit Brutalität und Raffinesse geschafft, sich an die Spitze zu setzen.
Bis zu seinem Infarkt!
Der hatte ihn aus seinem verbrecherischen Leben herausgerissen, und der Organisation einen schweren Schlag versetzt.
Über dem Platz lag eine ehrfürchtige Stille. Dazu kam das strahlende Azurblau des Himmels. Ein Tag wie aus dem Bilderbuch. Der Verkehrslärm war nur als gedämpftes Rauschen zu vernehmen, die Kirche und der Platz lagen abseits des Haupttrubels.
Keiner der Menschen bemerkte das hellere Schemen, das schlangengleich über die Hausdächer der Stadt strich.
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