024 - Irrfahrt der Skelette
die Halbfranzösin als Kind einmal mit einem Boot aufs
Meer hinausgetrieben worden war. Drei Tage lang hatte man sie gesucht und
schließlich völlig erschöpft in einer Bucht gefunden. Das alles lag schon mehr
als fünfzehn Jahre zurück. Aber das kleine Mädchen von damals hatte einen
Schock davongetragen. Ryan hatte schon des öfteren festgestellt, daß Chantelle
auf See eine eigenartige Unruhe zeigte, sobald sich schlechtes Wetter
ankündigte. Und sie atmete hörbar auf, .wenn die Orpheus vor Anker ging oder in
einen Hafen einlief.
»Ich sehe mir die Discover rasch an und komme sofort zurück«,
sagte er. »Und wegen des Wetters brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Es
wird nicht schlimm werden. Es sieht so aus, als ob die Front nach Süden
weiterzieht. Wir werden nur die Ausläufer zu spüren bekommen.«
Er griff nach der Kamera, die er in einem wasserdichten Gehäuse
transportierte, und sprang dann in die ruhige See.
Sanders hatte die Kamera um den Hals hängen, als er sich an der
weißen Bootswandung aus Plastik hochzog.
Aus nächster Nähe warf er einen Blick über das kleine, weniger als
sieben Meter lange Boot. An Spezialbefestigungen hingen zahlreiche
Trinkwasserbehälter, sie waren in Vertiefungen direkt hinter der Bootswand
aufbewahrt. Jeder Zentimeter dieser kleinen schwimmenden Welt war ausgenutzt.
»Hallo? Mr. Sullivan?« Ehe er sich vollends hochzog, rief er
lautstark in Richtung Kabine.
Dort rührte sich nichts. Aber man mußte ihn doch hören! Es war im
Augenblick fast völlig windstill. Die gesetzten Segel der Discover II hingen
wie zwei überdimensionale Ballons, denen man die Luft abgezapft hatte, faltig
und schlaff am Mast.
Ehe der Australier die Treppen nach unten ging, wandte er sich um
und winkte zu Chantelle zurück, die am Mast stand und zu ihm herüberblickte.
Die Orpheus hatte nicht ein einziges Segel gesetzt. Im Gegensatz zur Discover
II wirkte sie wie ein Koloß mit ihren höheren Aufbauten und ihrer breiteren
Bauweise. Dabei war sie aber nur doppelt so lang wie die Discover II.
Chantelle winkte zurück. Aber sie lächelte nicht. Ryan sah es ganz
deutlich. Aufmerksam näherte er sich der halbgeöffneten Kabinentür und stieß
sie vollends auf. Er prallte zurück, als sein Blick über den Boden streifte.
Vor ihm lagen zwei blanke, fein säuberlich abgenagte menschliche Skelette...
Er brauchte zwei Minuten, um sich von der Verwirrung und dem
ersten Schock zu erholen.
Dann bemühte er sich, die Kabine einer eingehenden Untersuchung zu
unterziehen.
Er stieg über die Skelette hinweg. Ein würgendes Gefühl breitete
sich in seinem Magen aus und stieg seine Kehle hoch. Er mußte sich bemühen,
nicht auf den Boden zu blicken. Aber immer wieder geschah es. Die Kabine war zu
klein. Selbst wenn er in der winzigen Kochnische stand, nahm er aus den
Augenwinkeln heraus die weißen Knochen wahr.
Neben einem schmalen Regalbrett hing ein kleiner Schrank, in dem
ausschließlich Wasch- und Rasierzeug untergebracht war. An der Tür des
Schränkchens befand sich ein Metallspiegel. Ryan Sanders sah sein Konterfei
darin und erschrak vor seinem eigenen Aussehen. Er war aschgrau. Auf seiner
Stirn perlte kalter Schweiß. Ihn fröstelte, obwohl in der Kabine eine drückende
Hitze herrschte.
Der Australier war nicht leicht umzuwerfen. Aber hier versagte
einfach sein Abwehrmechanismus. Das hing damit zusammen, daß diese Szene, die
er antraf, jeglicher Beschreibung spottete und allen Gesetzen der Vernunft und
der Natur zuwiderzuhandeln schien.
Was war hier geschehen? Diese Frage drängte sich ihm auf. Aber es
gab keine Antwort. Sanders schoß mehrere Aufnahmen und nahm die blanken
Skelette von allen Seiten auf. Nicht ein einziger Fetzen Fleisch war an den
Knochen zurückgeblieben. Alles Gewebe war verschwunden und schien sich in Luft
aufgelöst zu haben. Ryan betrachtete die Lage der beiden Knochengerüste
genauer. Die Skelette lagen dicht nebeneinander. Der Arm des einen Seglers - ob
es sich dabei um Sullivan oder um seinen Partner Henriks handelte, ließ sich
schlecht erkennen - lag um den Hals des anderen, so daß es im ersten Augenblick
aussah, als hätte der eine den anderen gewürgt.
Ryan schoß mehrere Aufnahmen nur von diesem Ausschnitt. Die
Bilder, die er mit an Land bringen würde, waren eine Sensation. Und sie
stellten ein Geheimnis dar. Etwas Ungeheuerliches mußte sich an Bord des
kleinen Seglers ereignet haben.
Was ihn ebenfalls noch irritierte, war die Tatsache, daß beide
Männer
Weitere Kostenlose Bücher