024 - Irrfahrt der Skelette
noch ihre unversehrten Badehosen trugen. Faltig und schlaff lagen sie
zwischen den Knochen und wurden von den abstehenden Hüftgelenken noch gehalten.
Kein Verwesungsgeruch füllte die Kabine.
Ryan Sanders hielt sich fast zwanzig Minuten auf der Discover II
auf. Er blätterte flüchtig im Logbuch der beiden auf rätselhafte Weise
umgekommenen Segler und nahm es dann an sich, um es an Bord seiner
Orpheus
genauer studieren zu können. Er nahm auch eine große Muschel mit, ein offenbar
sehr seltenes und kostbares Exemplar. Er selbst war schon auf vielen Inseln
gewesen und besaß eine beachtliche Muschelsammlung aus allen Teilen der Welt.
Aber ein solches Exemplar hatte er nie zuvor gesehen.
Das Muschelgehäuse war doppelt so groß wie ein menschlicher
Schädel. Es hatte eine grünlich-braune Farbe von eigenwilligem Seidenglanz. Der
Hauptteil, flach wie eine Flunder, verjüngte sich und lief zu einer
nadelspitzen Spirale aus, die aussah wie gegossenes Kupfer.
Mit der Kamera um den Hals, Muschel und Logbuch in den
wasserdichten Beutel zur Kamera verstaut, sprang Ryan ins Wasser.
Das kühle Naß erfrischte ihn. Er versuchte sein Erlebnis zu
vergessen, mit dem er konfrontiert worden war.
Doch die Bilder vor seinem geistigen Auge verblaßten nicht.
Ständig mußte er an die Skelette denken, die aussahen, als hätten zahllose
Rattenzähne sie bis auf den letzten Fleischrest abgenagt.
Aber hier mußte etwas anderes am Werk gewesen sein als Nagetiere.
Außerdem gab es nicht den geringsten Hinweis darauf, daß an Bord
der winzigen Discover II, die ein Musterbeispiel an Sauberkeit darstellte, etwa
Ungeziefer lebte. Und Ryan hatte schon Leichen gesehen, die von Ratten
angefressen waren. Das, was er diesmal entdeckt hatte, unterschied sich von
allen seinen Kenntnissen und Erfahrungen.
Wieder an Bord der Orpheus machte er zwar einen ernsten, aber
ruhigen Eindruck.
»Nun, wie sieht es drüben aus?« Man hörte der Stimme Chantelles
an, daß sie sich wieder wohler fühlte, als Ryan an Bord war.
»Sie sind verschwunden! Keine Spur von Sullivan und Henriks!«
Mit keinem Wort erwähnte er, welch schaurigen Fund er in
Wirklichkeit gemacht hatte.
Ryan Sanders verstaute die Kamera, das Logbuch und die Muschel in
seiner Kabine.
Chantelle wich nicht von seiner Seite. Sie begutachtete und
bewunderte ebenfalls die Muschel und gab zu erkennen, daß sie ein derart
ungewöhnliches und schönes Exemplar nie zuvor gesehen habe.
»Vielleicht steht etwas darüber im Logbuch«, bemerkte der
Australier. »Den Fundort eines solchen Seltenheitsexemplars werden sie sicher
angegeben haben. Ich bin überhaupt gespannt darauf, was sie in ihrem Logbuch
alles niedergeschrieben haben. Wir werden es nachher zusammen lesen. Ziehen wir
zuerst die Segel auf, damit wir von hier wegkommen.«
Chantelle, auf einer Insel geboren, von klein auf mit dem Meer und
mit Booten vertraut, langte tüchtig zu.
Die schneeweißen Toppsegel der Orpheus blähten sich auf, und das
Schiff gewann an Fahrt.
Die Wetterfront näherte sich nur langsam. Der Wind kräuselte die
See; kleine Wellen, die schnell und kurz aufeinander folgten, wiesen darauf
hin, daß das Unwetter hinter ihnen herkam.
Doch noch hatte der Wind nicht gedreht, und über ihnen war der
Himmel noch immer blau und wolkenlos. Aber die Hitze flirrte über dem Wasser,
die See schien zu dampfen, und man spürte beinahe körperlich die Ruhe vor dem
nahenden Sturm.
»Wo mögen sie wohl sein?« fragte Chantelle unvermittelt und
starrte auf das Segelschiff, dem Ryan eben einen Besuch abgestattet hatte.
Der Australier war so in Gedanken versunken, daß er im ersten
Augenblick gar nicht begriff, wovon Chantelle eigentlich sprach.
Er zuckte die Achseln, als er ihre Blicke auf sich gerichtet sah.
Aber er schaute sie nicht an. Seine Augen waren auf das winzige weiße Segelboot
Discover II gerichtet, das mit automatischer Steuerung seine Geisterreise
fortsetzte.
»Ob ein Brecher sie von Bord gespült hat, Ryan?«
»Vielleicht«, murmelte er. Aber er wußte, daß es nicht so war.
Die Discover II hatte ihr Geheimnis nicht preisgegeben ...
»Nutze die letzten Sonnenstrahlen noch aus«, sagte Ryan Sanders
unvermittelt. Es fiel ihm schwer, sich so heiter und unbeschwert zu geben wie
in den letzten Tagen. Der feinfühligen Chantelle entging das nicht.
»Du hast doch was ... «
Es ist nichts, hatte er sagen wollen. Aber er wußte, daß er seine
Begleiterin damit nicht abwimmeln konnte.
»Ich muß an das Schicksal
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