045 - Mörder der Lüfte
die Gedanken des Kindes.
Jetzt?
Eine Wolke schien schnell über den Himmel zu ziehen, denn das verhangene Fensterviereck verdunkelte sich für einen Augenblick noch mehr. Schon war der Schatten vorbei.
Ein Geräusch. Etwas barst. Was? Das Rauschen in seinen Ohren übertönte es. Er hörte alles wie aus weiter Ferne. Einen Schrei, langgezogen und in tiefsten Tönen. Er stimmte darin ein. Jetzt gebar Rosita, und er teilte ihren Schmerz.
Etwas schlug von der anderen Seite gegen die Trennwand. Es hörte sich an, als ob ein Kampf stattfinden würde. Warum war es Rosita nicht gegönnt, eine leichte Geburt zu haben? Warum konnte er ihr die Schmerzen nicht abnehmen?
Viele Stimmen schrien durcheinander. Die Verbindungstür wurde aufgestoßen. Eine der Frauen, die als Geburtshelferinnen bei Rosita geblieben waren, tauchte im Türstock auf. Über ihre Stirn floss Blut. Sie brach wimmernd zusammen.
Durch die offene Tür war ein Gepolter zu hören, ein Flattern wie von kräftigen Flügelschlägen. Und wieder der Schrei, der Schrei einer Mutter. Und der Schrei eines Kindes. Stimmen, die nicht Erlösung von den Schmerzen ausdrückten, sondern von grenzenlosem Leid erfüllt waren. Sie verkündeten nicht die Erschaffung neuen Lebens. Nein, sie kündigten den Tod an. Und das Schlagen der Schwingen klang für Jimenez wie eine mit scharfer Klinge die Luft durchschneidende Sense.
Er brauchte nicht lange zu warten, um zu merken, dass hier etwas nicht stimmte. Benommen kletterte er von seinem Lager, taumelte zur Tür und stolperte über die am Boden kauernde Geburtshelferin.
Als er ins andere Zimmer blickte, sah er zuerst nur seltsam tanzende Schatten. Sie schienen zu wimmern wie Klageweiber. Aber dann blendete ihn die Helligkeit, die durch das offene Fenster fiel. Der Vorhang hing in Fetzen vor den zerbrochenen Fensterscheiben. Und etwas entfleuchte durch dieses Fenster, wie es gekommen sein musste.
Ein Adler. Ein schneeweißer Adler, dessen Gefieder von Blut getränkt war. Vom Blut getränkt war auch das Wochenbett. Rosita lag auf dem Boden, die zuckenden Beine noch halb auf der Lagerstatt, die Hände in Richtung Fenster gestreckt, so als wolle sie zurückholen, was ihr der Raubvogel soeben geraubt hatte.
Jimenez stieg über sie hinweg. Alles um ihn erstarrte zu einer unwirklichen Kulisse. Er sah nur den majestätischen Adler, der steil in den Himmel Mexikos hinaufstieg und in seinen Krallen Jimenez' Lebensinhalt davontrug.
Jimenez starrte dem Raubvogel nach, bis er hinter den Bergen als winziger Punkt verschwunden war. Noch nie in seinem Leben hatte er sich so hilflos und so verzweifelt gefühlt. Eine ganze Welt stürzte für ihn zusammen.
Aber er resignierte nicht. Er war schon immer ein Kämpfer gewesen. Und er schwor in diesem Augenblick dem weißen Adler Rache. Er wollte nur noch dafür leben.
Die Hütte stand zwischen Schutthalden vor dem Stahlbetonskelett eines im Bau befindlichen Hochhauses. Von außen sah sie aus wie jede andere Bauhütte. Die Wände aus Holzplanken waren etwas aus dem Winkel geraten, das mit Teerpappe bedeckte Dach hing auf der einen Seite etwas tiefer herunter, wie der lahme Flügel eines Vogels. Aus dem einzigen Fenster ragte ein Ofenrohr.
Aus dem Ofenrohr kräuselten sich schwache Rauchschwaden.
Das machte Dorian Hunter etwas misstrauisch, und die Warnungen seines Freundes, nicht zu dem Treffen mit den Dämonen zu gehen, kamen ihm wieder in den Sinn.
Eine geheizte Bauhütte mitten im Juni?
Und eine so primitive Hütte auf dem Bauplatz eines Hochhauses!
Dorian hatte sich erkundigt. Das Hochhaus würde wohl nicht so schnell fertig gestellt werden. Der Bauherr hatte vor Jahren Pleite gemacht, und seit damals stand das Skelett aus Stahlbeton unberührt.
Wollten die Dämonen nicht, dass der Bau voranging? Eigentlich eine müßige Frage, denn sie hatte mit seinem Problem nichts zu tun.
Entschlossen öffnete er die Tür der Hütte und trat ein.
Plötzlich wusste er sofort, dass ihn sein Gefühl nicht getrogen hatte. Mit dieser Bauhütte stimmte irgendetwas nicht. Von außen hatte sie nur eine Länge von fünf Metern. Als er jetzt in ihrem Innern war – die Tür fiel hinter ihm wie von Geisterhand bewegt zu, und Finsternis umgab ihn –, hatte er das Gefühl, sich in einem grenzenlosen Raum zu befinden.
Die Falle war hinter ihm zugeschnappt. Er stand im Banne eines magischen Zaubers.
Er versuchte, die Dunkelheit mit den Augen zu durchdringen. Tatsächlich war ihm nach einer Weile, als könne
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