05 - komplett
kommen.“
Widerstrebend schlug die junge Dame ihr Buch zu, aber sie erhob sich nicht gleich.
Sie drehte sich auf den Rücken, streckte sich wie eine Katze und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Mit entrückter Miene und dem Anflug eines Lächelns auf den Lippen schaute sie in den Himmel.
Nun hätte Charles den Blick tatsächlich abwenden sollen. Jeden Moment hätte sie die Augen zu seinem Fenster richten und entdecken können, dass er sie begehrlich anstarrte. Und dies wäre wirklich fatal gewesen. Die unangenehmen Folgen, die eine Entdeckung nach sich ziehen könnte, kamen ihm jedoch gar nicht in den Sinn. Einen Augenblick vergaß er sogar zu atmen.
Himmel, sie war hinreißend. Ihre Figur fand seine Bewunderung, ihr Gesicht indes raubte ihm den Atem ... Die perfekte kleine Nase, die vollen Lippen ... Charles schluckte schwer. Nun, da sie auf dem Rücken lag, sah er seine Vorstellung bestätigt.
Sie war tatsächlich schlank, aber definitiv an den richtigen Stellen gerundet. Immer noch sah er nicht alles, was er zu sehen wünschte – die Farbe ihrer Augen beispielsweise, den Schwung ihrer Brauen – aber mit ihrem goldblonden Haar war sie unbestritten eine Schönheit.
Wie alt sie wohl ist? fragte er sich. Zwanzig? Vielleicht einundzwanzig? Sie war eindeutig jung, aber nicht zu jung.
Mit unerfahrenen Debütantinnen ließ er sich nicht ein, was schlicht an der Tatsache lag, dass diese gewöhnlich auf Gattenfang waren. In die Ehefalle wollte er ganz gewiss nicht gehen.
Schließlich erhob sich die junge Frau und ging, das Buch fest an die Brust gedrückt, ins Haus. Der Bann war gebrochen.
Mehrere Minuten wartete Charles, darauf hoffend, dass sie wieder in den Garten hinauskam, dann aber schoss ihm ein Erfolg versprechenderer Gedanke durch den Sinn.
Er verließ seinen Platz am Fenster und ging geradewegs zum Zimmer seiner Schwester. Das im Korridor hängende Porträt seines Ururgroßvaters, der missbilligend unter buschigen Augenbrauen auf ihn herabstarrte, ignorierte er geflissentlich.
„Lucy? Bist du da?“, rief er durch die Tür. Seine achtzehnjährige Schwester verbrachte zum ersten Mal die Saison in London. Trotz der zwölf Jahre Altersunterschied standen sie sich sehr nahe, wenngleich er sich immer noch nicht an die Tatsache gewöhnt hatte, dass seine Schwester kein Kind mehr war.
Lucy öffnete lächelnd die Tür. Sie war ein hübsches, zierliches Mädchen. Wie ihr Bruder hatte sie schwarzes Haar und grüne Augen. Von der Größe einmal abgesehen
– er war über einen Meter achtzig groß –, war die Ähnlichkeit zwischen ihnen frappierend. „Hast du Sehnsucht nach mir, Charles?“, fragte sie kess.
„Oh, du musst dir nicht selbst schmeicheln, Lu. Ich möchte lediglich deine Pläne für den heutigen Abend erfahren.“
Sie hob eine Augenbraue. „Willst du mich etwa begleiten? Das wäre ja ganz neu.“
„Zu deinem Debüt vor zwei Wochen habe ich dich ebenfalls begleitet“, warf er ein.
„Das zählt nicht, weil du daran teilnehmen musstest. Außerdem hast du mir an jenem Abend selbst gesagt, es wäre das erste und letzte Mal.“
„Vielleicht habe ich meine Meinung inzwischen geändert. Welche Veranstaltung steht heute Abend auf dem Programm?“
„Lady Teasdales alljährlicher Ball.“
Charles nickte, als überlege er, ob er sie begleiten solle, aber er hatte seine Entscheidung längst gefällt. Kaum etwas verabscheute er mehr, als Lady Teasdales verflixten Ball zu besuchen, indes hoffte er, dort der jungen Frau im gelben Kleid zu begegnen, um mehr über sie zu erfahren. Lady Sinclair hatte sie hereingebeten, damit sie sich für irgendeinen Anlass umkleidete, wahrscheinlich für diesen Ball.
„Gut, ich werde dort sein.“
„Aber du kannst Lady Teasdale nicht ausstehen!“, rief Lucy.
Charles wurde klar, dass dieses Gespräch wohl kaum so kurz werden würde, wie er angenommen hatte. Er betrat Lucys Zimmer und ließ sich in einen der Sessel fallen, in Gedanken bereits nach einer plausiblen Erklärung suchend. „Mir ist bewusst geworden, dass ich meine Pflichten vernachlässigt habe, Lu. Ich sollte dich mit den Aasgeiern nicht allein lassen.“
„Charles, Mutter begleitet mich. Es ist nicht so, als hätte ich keine Anstandsdame.“
„Ja, aber Mutter kennt die diversen Gentlemen nicht so wie ich. Mir wäre es verhasst, wenn du deine Zeit mit Tunichtguten vergeudest.“
Sie stöhnte ungläubig auf. „Wie kannst ausgerechnet du nur so argwöhnisch sein? Du bist doch der
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