05 - komplett
größte Herzensbrecher von allen. Ist es dir nie in den Sinn gekommen, dass ich deine Gesellschaft vielleicht gar nicht möchte?“
Er gab sich entsetzt. „Und diese Worte aus dem Mund meiner geliebten Schwester.“
Lucy gab sich so schnell nicht geschlagen. Sie liebte ihren Bruder von ganzem Herzen, aber gelegentlich übertrieb er es etwas mit der Fürsorglichkeit. Ein letztes Mal wollte sie versuchen, ihm den Ball auszureden. „Gewiss wirst du Mutter sehr glücklich machen, wenn du uns begleitest. Erst heute Morgen erzählte sie mir, es sei höchste Zeit, dass du dich vermählst.“
Eine unschuldige Miene aufsetzend, klimperte sie mit den Wimpern.
„Das sagt Mutter jeden Tag.“
„Tja, Charles ...“ Lucy erwärmte sich für dieses Thema. „In letzter Zeit hat Mutter vermehrt Anstrengungen unternommen, eine passende Partie für dich zu finden.
Habe ich dir das noch nicht erzählt? Offenbar sorgt sie sich, du würdest dich möglicherweise nie vermählen.“
„Das soll eine Neuigkeit sein?“, fragte er und gähnte gespielt.
Sie ignorierte sein unhöfliches Benehmen. „Nein, aber neuerdings pflegt sie die beunruhigende Angewohnheit, ein Notizbuch bei sich zu tragen, in das sie Namen und Herkunft einer jeden ledigen Frau einträgt, der sie begegnet. Sie geht nie ohne es aus.“
Sprachlos blickte er sie einen Augenblick an, ehe er sagte: „Sie macht sich Notizen?
Wie sieht dieses Notizbuch aus, Lucy?“
Sie überlegte, ob sie es ihm beschreiben sollte. Immerhin bestand die Möglichkeit, dass er nach dem Buch suchen und es entwenden wollte. Das würde ihre Mutter ihr nie verzeihen. Ganz zu schweigen davon, dass ich das Büchlein auch nicht mehr wie ein Damoklesschwert über den Kopf meines Bruders halten kann falls nötig, dachte Lucy. Früher oder später würde er allerdings ohnehin erfahren, wie es aussah. Sie entschloss sich zu einer möglichst vagen Beschreibung. „Tja, so genau kann ich das nicht sagen. Oft habe ich es nicht gesehen und wenn, dann war es immer aufgeschlagen. Ich glaube, der Einband ist aus Leder. Oh, und klein ist es natürlich, damit sie es in ihr Retikül stecken kann.“
Charles hatte nach der Universität mehrere Jahre in den Diensten des Kriegsministeriums gestanden und durchschaute das Ausweichmanöver seiner Schwester mühelos. Beeindruckt von ihrer Geschicklichkeit, die jener der französischen Spione, die ihm über den Weg gelaufen waren, in nichts nachstand, ließ er das Thema für den Moment fallen. Er würde das Buch schon finden und verschwinden lassen.
„Du warst sehr hilfreich, Lu. Dafür kann ich dir gar nicht genug danken – und ich werde euch heute Abend begleiten.“ Charmant lächelnd stand er auf und ging in sein Zimmer zurück. Der Ausritt im Park konnte warten.
2. KAPITEL
Beatrice Sinclair hielt überlegend inne, den Stift über einer leeren weißen Seite ihres Notizbuches gezückt. Sie schrieb drei Worte, strich sie aber sofort wieder aus, um auf weitere – bessere – Worte zu warten. Indes fielen ihr keine ein.
Als sie merkte, dass sie zu zerstreut war, um ihrer Schriftstellerei die verdiente Aufmerksamkeit zu widmen, legte sie das Buch beiseite. Wie sollte sie sich auch in das Schreiben erfundener Geschichten vertiefen, wenn die Wirklichkeit – ihr eigenes Leben – solch ein Trauerspiel war?
Nach Inspiration suchend ließ sie den Blick durch das Zimmer schweifen. Die Wände des Hauses ihrer Großtante Louisa waren mit Seidentapeten bedeckt, die entweder ländliche Motive oder Blumenmuster zeigten. In ihrem eigenen Zimmer tummelten sich Schafhirten neben Mägden auf den Wänden, die Decke zierten aufgemalte Wolken. Beatrice hätte es vorgezogen, sich im Freien aufhalten zu können, aber Tante Louisa hatte sie hineingerufen, da sie es missbilligte, wenn junge Damen sich sonnten. Eine einzige Sommersprosse könne bereits die Chancen eines Mädchens auf eine Hochzeit vereiteln, behauptete sie.
Seufzend wandte sich Beatrice wieder ihrem Notizbuch zu. Sie besaß es seit ihrer ersten Saison vor fünf Jahren. Zunächst hatte sie es als Tagebuch genutzt und darin –
im wahrsten Sinne des Wortes – die Ereignisse eines jeden Tages festgehalten. Dies tat sie, weil sie befürchtete, so hohlköpfig wie der gesamte ton zu werden, wenn sie ihren Verstand nicht mit etwas Nützlichem beschäftigte. Das Lesen des Tagebuchs zum Ende dieser ersten Saison hatte ihr indes deutlich gemacht, wie langweilig ihr Leben geworden war. Es bestand bloß noch aus
Weitere Kostenlose Bücher