05 - komplett
Gang gestellt. Er hatte es versteckt, um die Erinnerung an diesen Teil seines Lebens für immer aus seinem Gedächtnis zu verbannen.
Und jahrelang war nur eine Lücke geblieben.
Früher war es zu schmerzlich für ihn gewesen, das Porträt zu betrachten. Inzwischen aber hatte sich so viel geändert, so viele Dinge waren wichtiger geworden, beschäftigten seine Gedanken ...
Er war kein Junge mehr. Er war ein Mann und würde bald selbst Vater sein. Er würde ein Kind haben, das seinen Vater nie so kennen würde, wie er seinen Vater gekannt hatte. Er wollte niemanden mehr so nah an sich heranlassen – der Schmerz, den der Verlust einer solchen Liebe auslösen konnte, war unerträglich.
Allerdings war er sich nicht mehr sicher, ob er noch länger fähig sein würde, eine kühle Distanz zu wahren, sich gleichgültig zu geben. Zur Hölle, er hatte es monatelang versucht und war kläglich gescheitert.
Er liebte Beatrice. Das wurde ihm in diesem Augenblick unvermittelt klar, hatte sie immer geliebt. Nichts würde daran je etwas ändern. Und er wünschte sich dieses Kind – sein Kind, ihr beider Kind – so sehr. Es würde ihm nie möglich sein, es nicht zu lieben, ja er liebte es bereits jetzt von ganzem Herzen. Die Vorstellung jagte ihm Angst ein, doch die Tatsache blieb bestehen.
Er hoffte nur, er hatte Beatrice nicht bereits verloren.
Vorsichtig hängte Charles das Gemälde auf den Haken und wischte den Staub ab.
Dabei bemerkte er etwas in seiner Tasche – Jacks Brief.
Ohne nachzudenken, zog er ihn heraus, warf ihn in den Gang und verriegelte die Tür.
Er brauchte keine Gewissheit mehr, ob Milbanks tot war oder nicht; er brauchte Beatrice, ihre Liebe. Das wurde ihm nun klar.
Er trat einen Schritt zurück und begutachtete sein Werk. Das Porträt hing dem seines Vaters wieder gegenüber und füllte die Lücke, die es dort vor fünfzehn Jahren hinterlassen hatte.
Charles machte auf dem Absatz kehrt und verließ die Galerie. Der Morgen dämmerte bereits, und er musste sich auf die Suche nach Beatrice machen.
Möglicherweise liebte sie ihn nicht, und ganz sicher hatte er ihre Liebe nicht verdient
– aber sie würde ihr beider Kind lieben. Dessen war er sich gewiss.
Und sie würde ihr gemeinsames Kind verflixt noch mal nicht ohne ihn großziehen.
29. KAPITEL
Als Charles Sudley endlich erreichte, war sein Geduldsfaden zum Zerreißen gespannt.
Zwar verstand er Beatrices Ärger – er war kein idealer Gatte gewesen –, dennoch hätte sie ihm nicht verheimlichen dürfen, dass sie ein Kind erwartete. Und sie hätte ihn auch nicht verlassen dürfen.
Gut, er hatte sie zuerst verlassen, aber das war in beiderseitigem Einvernehmen geschehen. Und hätte er gewusst, dass sie sein Kind in sich trug, wäre er gar nicht gegangen.
Er beabsichtigte auch nicht, sie noch einmal allein zu lassen. Er wollte sie nach Hause holen, sein Leben auf immer mit ihr teilen, alles wieder gutmachen und noch mal von vorne anfangen.
Als die Kutsche die Auffahrt nach Sudley entlangfuhr, sah er Helen, die mit einem Jungen ihres Alters dort entlangschlenderte. Er ließ seinen Kutscher anhalten.
„Guten Tag, Helen“, rief er. „Möchtet ihr mitfahren?“
Das Mädchen betrachtete ihn argwöhnisch, während ihr Freund eifrig nickte. Helen stieß ihm den Ellbogen in die Rippen. „Nein, danke.“
Der Junge schnaubte. „Also, ich schon“, meinte er.
Helen bedachte ihn mit finsterem Blick, bevor sie Charles fragte: „Was machst du hier?“
Er seufzte. Das würde nicht einfach werden, wenn schon Helen, das Nesthäkchen der Familie, diejenige, die ihn am besten leiden konnte, so unwirsch auf ihn reagierte. Er konnte sich lebhaft ausmalen, was ihn im Haus erwarten würde.
„Ich bin hier, um meine Gattin nach Hause zu holen, Helen. Willst du nun mitfahren oder nicht?“
Sie zuckte mit den Schultern und stieg ein. Der Junge tat es ihr nach.
„Willst du mir deinen Freund nicht vorstellen?“, fragte Charles.
„Oh, tut mir leid“, meinte sie mürrisch. „Das ist George.“
George lächelte, und Charles hoffte auf einen Verbündeten.
„Kommt ihr beiden aus dem Dorf?“, fragte er.
„Versuchst du etwa, das Thema zu wechseln, Charles?“, erwiderte Helen.
Er gab es auf, freundlich zu sein. „Hat man dir schon einmal die Ohren lang gezogen, Helen?“
Sie bedachte ihn mit bösem Blick. „Nein, und dir?“
„Ja, es tut weh.“
George schaute angestrengt aus dem Fenster, sein Mund zuckte verräterisch. Helen hingegen starrte
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