058 - Der Duft von Sandelholz
hockte sich neben sie.
„Ein Teil von mir dachte, mein Vater würde wieder nach Hause kommen. Und wir müssten hier sein, wenn er eintrifft, weil er sonst nicht weiß, wohin wir gegangen sind. Es konnte ja sein, dass er uns dann nicht mehr finden würde." Zwei Tränen fielen aus ihren Augen. „Aber er wird nie wieder zurückkommen. Das ist mir natürlich klar. Ich glaube, ich habe es immer gewusst, aber ich wollte es nicht wahrhaben. Denn es tut weh."
„Liebste." Derek zog sie an sich. Matt schlang sie die Arme um ihn und weinte.
„Psst", machte er, während er sie auf seinem Schoß hielt. „Ich bin da."
Sie weinte, bis sie keine Tränen mehr hatte. Derek streichelte sie und tröstete sie, bis sie vor Erschöpfung verstummte.
Er war nicht sicher, wie viel Zeit vergangen war, aber vor ihrem Schlafzimmerfenster wurde es dämmerig.
„Es tut mir leid, was ich gesagt habe."
Er küsste ihre Stirn. „Ist schon gut."
„Du verzeihst mir?"
„Immer. Verzeihst du mir?" Er sah ihr in die Augen.
„Du hattest recht", sagte sie kaum hörbar. Sie nickte und senkte den Blick. „Dieser Ort. Ich muss mich von ihm befreien."
„Du bist jetzt frei." Er verschränkte die Finger mit ihren.
„Derek?"
Fragend sah er sie an.
„Bring mich hier heraus", flüsterte sie. „Können wir gehen? Können wir jetzt gleich gehen, ehe ich den Mut dazu verliere?"
Er nickte, erhob sich und half ihr beim Aufstehen. „Lass uns aufbrechen."
Sie gingen zum Stall, wo er die Pferde sattelte, und noch in derselben Nacht ritten sie nach London. Lily saß mit ihm auf seinem schwarzen Hengst, er hielt sie fest.
Mary Nonesuch, die Stute, folgte angebunden hinter ihnen.
Sie trabten durch die Dunkelheit, ohne ein festes Ziel vor Augen zu haben. Solange sie zusammen waren, brauchten sie nur sich.
EPILOG
Lilys Haus, das sie als für sich ideal fand, weckte die Vorstellung, in einem schönen sommerlichen Garten Tee zu trinken. Warme Goldtöne an den Wänden verliehen den hellen Innenräumen, die mit weichen Möbeln eingerichtet waren und viel geblümtem Chintz, einen zarten Glanz. Überall standen Topfpflanzen, die durch das Licht, das durch die hohen Fenster einfiel, üppig wuchsen.
Das weiße Cottage, das sie gefunden hatten, war perfekt für sie - nicht zu groß und nicht zu klein. Gerade weit genug entfernt von der Stadt, um ruhig gelegen zu sein -
von ihrem Schlafzimmerfenster aus konnten sie eine Wiese mit grasenden Kühen sehen -, und doch ihr so nahe, um an Londons Annehmlichkeiten teilhaben zu können.
Und es war neu. Alles funktionierte so, wie es sollte, nicht einmal die Bodenbretter knarrten. Es besaß Leitungen aus Kupfer, ein modernes Wasserklosett und ein dichtes Dach. Von dem Tag an, da Derek ihr das Haus kaufte, erschien es Lily wie ein Stück vom Himmel.
Es war ihr Zuhause.
Ein sicherer Ort. Ein Ort der Freude. Vor allem aber ein Ort der Liebe.
Balfour Manor gab es nicht mehr. Bei der Auktion hatte ein Architekt es gekauft und danach abgerissen. Die besten Stücke verwendete er bei seinen verschiedenen Bauprojekten.
Die Damen Balfour teilten den Gewinn untereinander zu gleichen Teilen auf, und mit erstaunlicher Geschwindigkeit veränderten die neuen Umstände ihr Leben auf drastische Weise.
Lady Clarissa zog in ein elegantes kleines Haus in derselben Straße, in der auch Mrs.
Clearwell wohnte. Bei ihrem Wiedereintritt in die Gesellschaft als immer noch schöne und unabhängige Witwe á la Fanny Coates, sah sie sich rasch umworben von einigen der wildesten jungen Burschen. Dabei konnte sie ihre starren Anstandsvorstellungen nicht lange aufrechterhalten. Sie war ständig umgeben von lustvollen, verliebten jungen Männern und hatte keine Zeit mehr, Lily oder sonst jemanden zu kritisieren. Sie war zu sehr damit beschäftigt, ihr Leben zu genießen.
Auch Cousine Pamela verfügte über eine Schar von Verehrern. Dem Dichter, den sie einst in einer literarischen Soiree kennengelernte hatte, hatte sie bereits den Laufpass gegeben -und ihm dabei zweifellos reichlich Material gegeben, über das er in seinen Gedichten trauern konnte. Jetzt sah man sie mit einem neuen Begleiter an ihrer Seite, einem aufstrebenden Komponisten, wie Lily glaubte. Nach ihrer Ankunft in London hatte Pamela die Brille abgelegt, sich das Haar kurz schneiden lassen und war dazu übergegangen, Rot zu tragen. John Murray, ihr Verleger, hatte mit ihr vereinbart, sechs Geschichten innerhalb der nächsten zwei Jahre zu drucken. Was Tante Daisy betraf,
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