06 - Prophet der Apokalypse
geschnitten, ein junges Ebenbild des alten Baumeisters. Aber im Gegensatz zu seinem Vater hatte er sich nicht zur Kunst, sondern zum Kampf berufen gefühlt. Er galt als einer der besten Krieger des Reiches.
»Ihr verlasst die Stadt vor Sonnenaufgang«, fuhr Ah Ahaual fort, »und stecht mit einem Kanu in See, das an geschützter Stelle für euch bereitsteht. Insgesamt seid ihr dreizehn.«
Die Dreizehn galt als heilige Zahl. Ah Ahaual wollte nichts dem Zufall überlassen. Auch unter den anderen Auserwählten gab es keinen, der Frau oder Kind hatte. Die meisten hatten nicht einmal mehr andere Angehörige.
»Ich enthülle dir jetzt den Grund eurer Reise.«
Zum ersten Mal schien so etwas wie ein Schauer der Ehrfurcht über Sayils Züge zu huschen. Sonst gab er sich keine Blöße.
Ah Ahaual erhob sich von seinem Thron und trat an die Fensteröffnung. Von hier ging sein Blick weit übers Land – das Land, das er um jeden Preis beschützen wollte. In der Ferne glitzerte das Meer – und dahinter der Horizont. Dort war die Welt zu Ende. Dorthin ging die Reise.
»Ihr werdet einen Gegenstand transportieren, den dein Vater angefertigt hat«, sagte Ah Ahaual, und er fügte wie beiläufig hinzu: »Du weißt, um was es sich handelt?«
»Nein, Herr«, antwortete Sayil wie erwartet; Puuc hatte es also wirklich geheim gehalten, sogar vor seinem Sohn.
»Es ist eine Stele aus Stein«, sagte der Kazike, »etwa vier Armlängen hoch. Ihr werdet sie auf das Boot verladen, zum Ende der Welt rudern und dort den Göttern übergeben.«
Während der junge Krieger erst einmal die Tragweite dieser Eröffnung verdauen musste, überdachte Ah Ahaual zum wahrscheinlich tausendsten Mal seinen Plan.
Der Himmelsstein war nicht von Menschenhand geschaffen; also stammte er von den Göttern. Hand an ihn zu legen, würde zweifellos deren Zorn erregen. Solange er nicht wusste, wie weit der Befehl des »Weißen« mit dem Werk und Willen der Götter einherging, konnte er unmöglich riskieren, den Stein und die Teile der »Maschine«, die seine besten Kunsthandwerker angefertigt hatten, zu zerstören.
Wohl aber konnte er die Entscheidung den Göttern überlassen. Indem er nur ihnen mitteilte, wo der Himmelsstein verborgen lag. Mit der Stele, die Puuc aus der Reliefwand herausgeschnitten hatte, genau im Zentrum seines Werkes. Alle weiteren Entscheidungen oblagen dann den Göttern. Eine in seinen Augen elegante Lösung, die ihn der Verantwortung enthob.
Sayil hatte sich wieder gefangen. »Eine Fahrt zu den Göttern, Herr?«, echote er ehrfürchtig. »Werden wir … zurückkehren?«
Ah Ahaual verneinte. »Vom Ende der Welt kann es keine Wiederkehr geben. Aber das muss nicht euren Tod bedeuten! Mögen die Götter entscheiden, was weiter geschieht.«
»Ich danke Euch für Eure Offenheit, Herr.«
Al Ahaual wandte sich ab und sah wieder durch die Öffnung ins Freie. »Es tut mit leid, deinem Vater den Sohn zu nehmen«, sagte er. »Aber er weiß, dass es einem hohen Zeck dient.«
»Mein Vater starb gestern Abend, Herr«, sagte Sayil leise.
Der Kazike wandte sich ihm zu, Betroffenheit im Blick. »Das wusste ich nicht.«
»Aber mit seinen letzten Worten verlangte er von mir den Treueschwur für Euch.« Sayil blickte fest in Ah Ahauals Augen. »Ich zögerte keinen Moment. Ich lebe für mein Volk und meinen Herrscher. Und ich bin auch bereit, dafür zu sterben.«
»Dein Vater kann stolz auf dich sein … und du auf deinen Vater.« Der Kazike legte ihm die Hand auf die Schulter – eine unerhörte Geste und ein Beweis seines Vertrauens. Dann verriet er ihm mit leisen Worten, wo Puuc und er die Stele am Vortag verborgen hatten; eine vor allem körperliche Anstrengung, von der sich der Baumeister offensichtlich nicht erholt hatte.
Nun gut; das enthob Ah Ahaual der schweren Aufgabe, seinen alten Freund eigenhändig zu töten. Es wäre ein zu großes Wagnis gewesen, jemanden am Leben zu lassen, der um das Relief wusste. Immerhin konnte der »Weiße« irgendwann zurückkehren und Nachforschungen anstellen.
»Berge das Vermächtnis deines Vaters und achte gut darauf«, sagte der Kazike. »Ich verabschiede mich schon jetzt von dir. Ich werde nicht dabei sein, wenn ihr im Dunkel der Nacht aufbrecht.«
Sayil bekundete noch einmal seine Treue. Dann verließ er den Ratssaal.
Ah Ahaual hatte Vorkehrungen getroffen, dass Ts’onot ihm nicht begegnete. Sein Sohn durfte nie erfahren, was aus dem Himmelsstein geworden war – und welchen Aufwand Ah Ahaual betrieb,
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