Lied ohne Worte: Roman (German Edition)
I
«Warum weinst du, Mama, sag doch, sag», bedrängte der kleine sechsjährige Knabe seine Mutter, löste ihre Hände vom tränenfeuchten Gesicht und sah sie unter langen Wimpern mit seinen leuchtenden blauen Augen an. Er war drauf und dran, in ihr Weinen einzustimmen, seine Augen waren voll Tränen.
«Meine Mutter, deine Großmutter, liegt im Sterben, und dies dauert mich so, ich möchte zu ihr. Aljoscha, Lieber, bleib gesund, wenn ich weg bin, sei brav, gehorche der Njanja 1 …»
Der Knabe warf sich seiner Mutter an den Hals und fing nun wirklich an zu weinen.
Die Türklingel lenkte ihn ab, er rief:«Papa ist da»und rannte, ihn in Empfang zu nehmen.
Alexandra Alexejewna erhob sich ebenfalls und begrüßte, ein Telegramm in der Hand, ihren Mann.
«Steht es schlechter?», fragte er.
«Ganz und gar schlecht, ich packe gerade und fahre hin… Ich kann nicht länger warten, mein Herz verzehrt sich.»
Und wieder begann sie zu schluchzen.
Verängstigt und betrübt blickte Aljoscha die Mutter an, trat zu ihr hin und nahm still ihre Hand; doch als er sah, dass der Vater etwas mitgebracht hatte, lief er wieder zu ihm zurück und lachte.
«Was ist das, Papa? Woher hast du das?»
Pjotr Afanassjewitsch hielt zwei ausnehmend große Blumenzwiebeln in Händen. Er bemühte sich, sie zu verbergen, denn angesichts der Trauer seiner Frau schien es ihm unschicklich, sie mitgebracht zu haben. Doch Aljoscha hatte sie bereits an sich genommen und zeigte sie der Mutter.
«Das sind ganz besondere Blumenzwiebeln», begann Pjotr Afanassjewitsch verlegen zu erklären,«ich habe sie von einem Freund, einem deutschen Gärtner, und werde sie nun unbedingt auch pflanzen… Es sind japanische… Sieh doch, Saschenka, sie wiegen sicher anderthalb Pfund…»
Doch Sascha konnte für das Gewicht der Blumenzwiebeln kein Interesse aufbringen. Ihr Herz zersprang vor Trauer. Auf der Krim lag ihre Mutter im Sterben, die sie so sehr liebte, ihr einziger wahrer Freund auf dieser Welt, der wie niemand sonst sie verstand. Selbst als Sascha bereits verheiratet war, versuchten sie, so oft wie möglich zusammen zu sein, und verbrachten alle Sommer gemeinsam. In diesem Jahr jedoch war ihre Mutter erkrankt. Im Sommer hatte sie eine Kumys 2 -Kur gemacht und war dann im Herbst mit dem jüngsten Sohn auf die Krim gefahren. Doch weder Kumys noch das warme Klima hatten geholfen. Die Nachrichten, die Sascha erhielt, wurden zunehmend schlechter, und so hatte sie sich heute entschieden, auf die Krim zu reisen.
Sie hatte zu packen, musste den geliebten einzigen Sohn alleinlassen, und dabei waren ihre Nerven ohnehin furchtbar empfindlich. Jede Nacht litt sie unter ihrer Neuralgie, konnte keine Ruhe finden und blickte voll Verdruss auf den gesunden Schlaf ihres rotwangigen, durch nichts zu erschütternden Gatten. Der kam nach einem langen Tag in der Versicherungsgesellschaft nachmittags um vier nach Hause und begab sich sofort in seinen – für die Stadt recht großen – Garten, wo er begeistert in der Erde grub und dabei die ganze Welt vergaß.
Pjotr Afanassjewitschs Berufung war es, Gärtner zu sein. Nichts auf der Welt liebte er so sehr wie die Erde und den Anbau von allem, was wuchs. Auch jetzt noch zog es ihn in den Garten, wenngleich der Herbst bereits Einzug gehalten und der Frost die Blumen hatte erfrieren lassen, alles Gemüse ausgegraben und die Erde aus den Treibkästen genommen war.
Nun aber war es ihm unangenehm, seine Frau alleinzulassen, obendrein empfand er Mitleid mit ihr; er war ein anständiger, gutmütiger Gatte, unkompliziert, schlicht und sanft.
«Soll ich dir helfen, Sascha?»
«Nein, das ist nicht nötig, du weißt doch nicht, was ich brauche… Ich weiß es ja selbst nicht einmal! Mein Gott! Mama, liebe, arme Mama! Sie wartet sicher schon auf mich… Parascha, bitte, komm. Pack doch alles so schnell als möglich…»
«Heißen Sie, die schwarze Mantille einzupacken? »
«Ja, natürlich, man weiß nie; vielleicht werde ich sie brauchen… Das Briefpapier hierhin, das Reisetintenfass… Reichen Sie mir das Eau de Cologne… Petja, es müssen noch die Dokumente beantragt werden; schreib schnell ein Gesuch und lass es besiegeln… 3 Auf, auf.»
«So reg dich doch nicht auf, Saschenka, du bist ja gar nicht mehr du selbst. Deine Neuralgie macht dir wohl zu schaffen…»
«An alles muss man selbst denken, auch wenn man ganz verzweifelt ist. Aljoscha, lauf und ruf die Njanja.»
Eine junge, hochgewachsene, überaus liebreizende
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