06 - Prophet der Apokalypse
ihre Gestalt. »Doch erst sollst du wissen, was er mir zuvor eröffnete.«
Diego nickte und wartete geduldig, dass Came weitersprach.
»Ts’onot schuldete dir noch einen Gefallen«, begann sie. »Du wolltest von ihm deine Zukunft erfahren, doch von dem Ergebnis hat er dir nie berichtet.«
Diego presste die Lippen zusammen. Das hatte er fast schon vergessen gehabt. Ts’onots Versuch, ihm zu weissagen, war von einer machtvolleren Vision überstrahlt worden, die nichts mit Diego, wohl aber mit der Zukunft aller Menschen zu tun hatte.
»Es gab ein Ergebnis?«, hakte er nach. »Davon hat er mir nie erzählt.«
Came blickte ihn so fest an, als wollte sie bis zum Grund seiner Seele schauen. »Weil es eine solche Tragweite besitzt, dass du es nicht frühzeitig erfahren durftest«, sagte sie.
Diego blickte sie ungläubig an. »Er hat also meine Zukunft gesehen?«
Sie nickte.
»Aber warum … oh, ich verstehe.« Er schluckte schwer. »Es hat mit meinem Tod zu tun, nicht wahr?«
Came schüttelte den Kopf. »Nein, Diegodelanda. Es geht um Verantwortung. Große Verantwortung!«
Diego verstand immer noch nicht, worauf sie hinaus wollte.
»Ich will es kurz machen«, sagte Came mit bebender Stimme. »Ts’onot erzählte mir, dass er dich an der Spitze unseres Reiches gesehen hat – als den Mann, der in schwierigen Zeiten die Geschicke unseres Volkes lenken wird.«
»Aber das kann unmöglich -«
»Ich konnte es selbst nicht glauben«, unterbrach sie seinen Einwand. »Aber es war die Vision meines Sohnes, des größten Chilam, den unser Volk je hervorgebracht hat. Zuerst war ich empört und wollte es nicht akzeptieren. Aber unter den jetzigen Umständen werde ich mein ganzes Ansehen dafür verwenden, dass deine Stimme Gehör findet.«
»Gehör …?«
»Ts’onot sah dich auf dem Herrscherthron sitzen und die Geschicke unseres Volkes lenken. Er sah in dir einen würdigen Nachfolger, und ich werde mich seiner weisen Vorausschau nicht widersetzen …«
***
Jahre später suchte Diego de Landa noch einmal die Grabhöhle des Propheten Ts’onot auf.
Sein Körper war bereits mumifiziert, eine hölzerne Maske ersparte den Blick auf ein Gesicht, das nur noch wenig mit dem des lebenden Ts’onot zu tun hatte. Auch Diego de Landa verzichtete darauf, das Bild, das er in seinem Herzen trug, zu trüben. Er war nur gekommen, um seinen eigenen Nachlass für die Welt der Zukunft zu deponieren.
Es war ein tönernes Gefäß, luftdicht versiegelt, in dessen Innern sich alle Aufzeichnungen befanden, die Ts’onot und er selbst in der letzten, gemeinsamen Vision gehabt hatten. Und dazu eine genaue Beschreibung der Vorkommnisse um den falschen weißen Gott und die »Maschine«, die zu bauen er verlangt hatte.
Diego de Landa, der auch von seinem Erscheinungsbild von Jahr zu Jahr mehr einem Maya denn einem Spanier ähnelte, hoffte, dass eines Tages jemand kommen und die Schriftrollen finden würde – genauso wie den Hinweis auf dieses Grab. Den Anstoß dazu hatte er im Umschlag der Kladde verborgen, die die Aufzeichnungen des Conquistadors Francisco Hernández de Córdoba enthielt. Dieses Buch würde er einem Priester mitgeben, der wie er selbst mit einer spanischen Karavelle in dieses Land gekommen war. So konnte es in die Alte Welt gelangen, wo sich die Gelehrten damit beschäftigen würden. Sie mochten dafür Sorge tragen, dass die Warnungen verstanden und in späteren Zeiten umgesetzt wurden.
Gottes Wege sind unergründlich , dachte Diego de Landa, genau wie die der Götter .
Bevor er Ts’onots Grab verließ, strich er kurz über den Ring, den er an einer Kette um den Hals trug.
Den Ring aus Gold und Blau, dem er den Hinweis auf die einzigen beiden Waffen verdankte, die den Himmelsstein zerstören konnten: den Feuerkranz und die Nadel der Götter.
ENDE
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