0618 - Doktor Wahnsinn
war recht bald als Sonderling verschrien. Als Zamorra dann vorübergehend an der Sorbonne in Paris lehrte, war Galworthy für kurze Zeit auch dort aufgetaucht, aber sein Vertrag war über zwei Semester hinaus nicht verlängert worden. Danach hatte Zamorra ihn aus den Augen verloren. Nur einmal, vor vielleicht anderthalb Jahrzehnten, hatte er munkeln hören, Galworthy habe sich vollständig von der Öffentlichkeit zurückgezogen.
Aber warum hätte er sich darum kümmern sollen?
»Er war mal für ein Semester Gastdozent an der Uni Münster«, sagte Monica Peters. »War ein ziemlich lustiger Vogel und der Schrecken der Mensa. Die hat er wohl häufig mit ’nem Hörsaal verwechselt und erzählte so laut, daß es niemand überhören konnte, von seinen Käfern, Spinnen und Kakerlaken und anderem unappetitlichen Viehzeugt. Einmal haben sie ihn sogar rausgeschmissen, weil er mit seinem Gefasel den Kommilitonen den Appetit verdarb und einer anfing, zu kotzen… Ich glaube, der Mann hat nie was anderes im Kopf gehabt als seine verflixten Insekten. Ich habe sogar mal versucht, ihn zu verführen. Aber aus dem geplanten Schäferstündchen wurde ein Fachvortrag, und da habe ich mich wieder angezogen und bin gegangen.«
»Typisch Galworthy«, murmelte Zamorra.
»Weiß der Himmel, wieso«, fuhr Uschi Peters fort. »Aber vor ein paar Stunden erst haben wir uns aus irgendeinem unerfindlichen Grund über ihn unterhalten, und ich wollte - nein, ich wollte es eigentlich gar nicht wirklich - wissen, was der Bursche heute so macht. Ob er vielleicht schon pensioniert ist oder die Menschheit immer noch mit seinen bemerkenswert haarsträubenden Theorien belästigt.«
»Und da habe ich mal ein wenig nachgeforscht«, warf Tendyke ein, »und ein paar von meinen alten Verbindungen spielen lassen. Tja, und da hieß es, daß Doktor Brian Galworthy jüngst verstarb.«
»Woran?« fragte Zamorra. »Hat ihn ein gar liebliches Vogelspinnlein gebissen?«
»Woran, weiß ich nicht«, sagte Tendyke trocken. »Aber wo. In einer Spezialklinik der National Security Agency.«
***
Vage Erinnerungen:
Du erwachst und weißt im ersten Moment nicht, wo du dich befindest. Du beginnst dich zu erinnern, was passiert ist. Der Unfall, der Schmerz, der Tod…
Nein! Es ist nicht der Tod! Der hat dich vergessen!
Aber der Schmerz nicht. Du kannst nicht feststellen, was dir alles weh tut. Dein ganzer Körper besteht nur aus Schmerz, aus nichts sonst. Und du kannst ihn nicht bewegen.
Du bist gelähmt.
Nur die Augen kannst du bewegen.
Und du kannst sprechen und hören, aber sie sagen dir, daß sie dich kaum verstehen können. Deine Zunge will dir nicht so gehorchen, wie sie soll. Es ist ein Lallen, aus dem sie mit Nachfragen herausinterpretieren müssen, was du ihnen sagen willst.
Sie sagen dir auch, daß die Hoffnung sehr gering ist, daß du dich jemals wieder aus eigener Kraft bewegen kannst.
Alles ist verloren.
Alles vorbei.
So nahe am Triumph… und dann doch noch gescheitert.
Wirklich?
Du findest Zeit zum Nachdenken. Sehr viel Zeit.
Denn sie lassen dich nicht sterben.
Eigentlich müßtest du tot sein. Dein Herz schlägt nicht mehr von allein, Nieren und Leber wollen nicht mehr funktionieren. Aber sie hängen dich an lebenserhaltende Apparate. Sie versuchen auch, deine Schmerzen zu lindern. Sie verabreichen dir Medikamente, versuchen alles Mögliche und Unmögliche. Aber dein Körper reagiert nicht darauf. Obgleich das Nervensystem eigentlich von der permanenten Betäubung in maximaler Dosierung längst abgestorben sein müßte, signalisiert es dem Gehirn immer noch die Schmerzimpulse.
Das Gehirn ist auch das einzige, was überhaupt noch funktioniert.
So zumindest sieht es aus.
Sie sagen dir immer wieder, daß sie dich wieder auf die Beine stellen werden. Du hörst das ständige Piep-piep-piep-piep-piep der Instrumente, die deine Lebensfunktionen überwachen - Lebensfunktionen, die nicht einmal mehr aus dir selbst heraus kommen.
Die künstlich stimuliert werden.
Schaltet die Apparate aus, und du kannst sterben.
Das ist es doch, was du willst, um diesem Grauen entfliehen.
Denn es ist der pure Horror. Zu existieren, völlig klar denken zu können, aber nicht in der Lage zu sein, sich auf Anhieb verständlich zu artikulieren, sich zu bewegen… nichts, gar nichts geht. Du kannst ihnen immer wieder sagen, daß sie die Apparate abschalten sollen, aber sie reagieren nicht darauf.
Sie wollen dich nicht sterben lassen.
Klar, aus welchem Grund!
Das
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